logo

Wright Ronald: Eine kurze Geschichte des Fortschritts. Deutsch von Monika Niehaus-Osterloh, 200 Seiten, Rowohlt Verlag 2012


Durchaus ein verstörendes Buch! Was ist Fortschritt? Und wann wird Fortschritt zum Rückschritt, zur Blockade, ja führt sogar in den Untergang? Ausgehend von Gaugins Fragen, Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, die er links oben in die Ecke des zugehörigen Gemäldes [Zugriff 6.10.23, 18 Uhr] setzte, entwirft Wright ein Bild der menschlichen Evolution. Das ist an sich schon spannend. Bestürzend ist aber, dass er aufzeigen kann, dass bestimmte Entwicklungslinien zugrunde gegangen sind, wie auch Kulturen zugrunde gingen. Und dies aus den gleichen Gründen: Gier, Unkenntnis, Unvernunft, religiöse Verblendung, Machtgier und was da noch für Dummheiten denkbar sind. Gibt es den Homo ludens (den spielenden Menschen), den Homo erectus (den aufrecht gehenden Menschen), den Homo faber (den Werkzeug machenden Menschen), den Homo sapiens (den vernünftigen Menschen), den Homo ökonomicus (den wirtschaftenden Menschen) – so auch den Homo insipiens (der dumme, unvernünftige, einsichtslose, unverbesserliche Mensch). Und nach der Lektüre des Buches drängt sich der Eindruck auf, dass wir vor allem zum Homo insipiens gehören. Dabei heißt es doch immer: Die Geschichte wiederholt sich nicht – tut sie leider doch, wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Aber: Wir können aus der Geschichte lernen – theoretisch.

Aktuell glauben wir an den technischen Fortschritt. Wir haben die religiöse Neurose (Religion ist eine Zwangsneurose, Freud) gegen den technischen Fortschrittsglauben eingetauscht. Mensch muss nicht zum Feind der Technik werden; wir haben aber alles auf sie gesetzt und ethische Standards hintan gestellt oder nur noch für Sonntagsreden reserviert. Der Fortschrittsglaube – der ja auch nur ein Konstrukt ist – hat sich zur Ideologie verfestigt, ist zu einer säkularen Religion geworden. Dieser blinde Glaube führt aus der inneren Logik heraus in die Katastrophe, solange es keine Folgenabschätzung gibt, die uns zu Bescheidenheit führen könnte.

»Nehmen wir nur einmal Waffen: Seit die Chinesen das Schießpulver erfunden haben, hat das Knallen große Fortschritte gemacht: vom Feuerwerkskörper bis zur Kanone, vom Sprenggefäß bis zur Granate. Und gerade als Brandbomben ein gewisses Stadium der Perfektion erreicht hatten, stieß der Fortschritt auf den unendlich viel größeren Knall im Atom. Wenn aber der Knall, den wir erzeugen können, unsere Welt in die Luft jagen kann, dann haben wir wohl eher zu viel Fortschritt gemacht« (S. 15).

Statt daraus jedoch etwas zu lernen, schwelgen manche Zeitgenossen in ihrem Größenwahn in Phantasien, die Erde zu verlassen, einen anderen Planeten zu besiedeln. Und die Massen klatschen Beifall, kaufen das Zeug, mit dem solche Irren die Milliarden verdienen um ihre Wahnvorstellungen in die Tat umzusetzen – oder es doch zu versuchen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir – Hiroshima und Nagasaki haben uns einen Moment erschreckt – »den nuklearen Geist in Schach gehalten, aber wir haben noch nicht damit begonnen, ihn zurück in seine Flasche zu drängen« (S. 17). Ja der aktuelle Angriffskrieg P(l)utins auf die Ukraine und die damit verbundenen Lagerbildungen, haben die Gefahr der nuklearen Katastrophe wieder näher rücken lassen. Auch die Verwundbarkeit von Atomkraftwerken (siehe die Gefahr in Saporischschja, Ukraine) hat die Möglichkeit eines atomaren Supergaus unvorstellbaren Ausmaßes heraufbeschworen; aber mensch möchte schon wieder neue Atomkraftwerke bauen, statt seinen Energiehunger zu mäßigen.

»Als paläolithische Jäger lernten, zwei Mammuts statt eines einzigen zu töten, hatten sie einen Fortschritt erzielt. Diejenigen, die lernten, 200 zu töten – indem sie eine ganze Herde über die Klippen trieben -, taten zu viel des Guten. Sie lebten eine Weile lang in Saus und Braus und mussten dann Hunger leiden« (S. 18).

G. K. Chesterton1 meinte, »“Der Mensch ist eine Ausnahme, was immer sonst er sein mag. … Wenn es nicht zutrifft, dass er ein gefallener Engel ist, dann können wir nur sagen, dass eines der Tiere völlig die Vernunft verloren hat“« (S. 19). Arthur Koestler nannte den Homo sapiens einen „Irrläufer der Evolution“.

Vielleicht ist die heute betriebene Beschleunigung – nicht nur der Digitalisierung um jeden Preis, ohne Verstand, nur von finanzieller Gier getrieben – ein weiterer Beitrag zum Verlust der Menschlichkeit – oder dem Untergang der Spezies. Immerhin brauchte der Fortschritt von den ersten behauenen Steinen bis zur ersten Eisenschmelze fast drei Millionen Jahre; von da an bis zur Wasserstoffbombe brauchte es nur dreitausend Jahre.

Der Eingriff des Menschen in die Natur ist inzwischen für historische Zeiten belegt. Was uns zunächst wie Natur erschien, war schon Folge menschlicher Unvernunft. So wurden die nordamerikanischen Prärien und das australische Outback durch planmäßiges Feuerlegen geformt, um Weideland für das Jagdwild zu schaffen.

Der Neandertaler (eigentlich müsste er Neumann heißen, da der Ort in der Nähe Düsseldorfs nach dem Komponisten Neumann benannt wurde und er dem damaligen Brauch folgte, den Namen ins Griechische zu übersetzen: »Neander«) betrat vor ungefähr 130.000 Jahren die Bühne und verschwand rund 100.000 Jahre später. Es ist immer noch nicht geklärt, ob die Wiege der Menschheit tatsächlich in Afrika stand. Etwa zeitgleich wie der Neandertaler entwickelten sich auch die Cro-Magnon, die als die Vorfahren unseres modernen Typus gelten. Sie lebten in der Dordogne-Region in Südfrankreich und es ist immerhin vorstellbar, dass sie irgendwann einmal auf Neandertaler trafen und sich mit ihnen paarten – ob freiwillig oder auf andere Weise ist nicht klar. Tatsache ist aber, dass einige moderne Menschen über eine typische Knochenleiste an ihrem Hinterkopf verfügen, die für den Neandertaler typisch ist. Der Neandertaler war eher der Bodybuilder unter den Frühmenschen, indes der Cro-Magnon ein schmaler, weniger muskulöser Vertreter war, jedoch ein guter Läufer. Nun sei es plausibel, dass die Erderwärmung dem Neandertaler zum Nachteil wurde, dessen Anpassung inclusive der flachen Stirn und der Oberaugenwülste eher für kältere Zonen Vorteile boten. Beim modernen Menschen kann sich das Gehirn durch die hohe Stirn so stark abkühlen, dass es Schaden nimmt.

Es ist nun nicht so, dass Wright ein Kulturverächter oder -pessimist ist. Er wohnt gerne in einem Haus anstatt in einer Höhle; er liest gerne Bücher und findet es eine schöne Erkenntnis, Teil der Evolution zu sein und vom Affen abzustammen. Es könnte aber sein, dass aus den ersten Fortschrittsfallen, der Perfektionierung der Jagd, der Ackerbau, der die Zivilisation ermöglichte, sich aber als die nächste Falle herausstellen könnte; und was wäre, wenn eben diese Zivilisation eine noch viel größere Falle darstellt – es sei denn, wir lernen aus den Erkenntnissen der Paläanthropologie.

Ein wenig klingt in dem Text die Melodie vom steinzeitlichen Gehirn an, das auch aktuell immer gerne bemüht wird, um von den kulturellen Fehlschritten abzulenken. Zumindest weist Wright darauf hin, dass viele frühe Kulturen zugrunde gingen, weil sie Wesentliches nicht verstanden. Andererseits schreibt der Autor auch davon, dass wir nicht mehr von der Natur, sondern entscheidend von der Kultur geformt werden – und so auch unser Organismus, in Sonderheit unser Gehirn. Es gibt also durchaus noch eine Chance, so wir sie ergreifen. Mich erinnert dies an Alfred Adler, einem der frühen Tiefenpsychologen. Für ihn war es eben nicht die Ratio, die letztlich den Menschen führt, sondern das Gefühl. Adler sprach vom Gemeinschaftsgefühl, d.h. von der erlebten Überzeugung des Zusammenhangs alles Lebendigen auf diesem Planeten. Wo dies nicht fühlend begriffen wird, droht der Untergang der Spezies. Erst rotten wir die anderen aus – wer immer das dann ist -, dann sterben wir. Wo es zu viele Exemplare einer Art gibt, vermehren sich die Fressfeinde. Die haben wir ausgerottet und vermehren uns nun hemmungslos – es sei denn, wir finden auch dafür eine Lösung.

Ich finde, es ist ein aufrüttelndes Buch, gut geschrieben, faktenbasiert und doch auch gruselig. Nach dem Mythos (erzählt von Hesiod) erhält Epimetheus, der Bruder von Prometheus ein Geschenk von Zeus. Prometheus, der vorher Bedenkende, warnt ihn vergeblich. So heiratet Epimetheus, der nachher Bedenkende, Pandora - die von den Göttern mit allen Liebreizen ausgestattet wird und eben die Büchse von Zeus erhalten hat - und die öffnet die Büchse (Psychoanalytiker Obacht!). Aus ihr entspringen alle Übel der Menschheit, zuletzt verbleibt in ihr die Hoffnung. D. h., Pandora war guter Hoffnung? So also doch die Chance der nächsten Generationen zu lernen, vorher zu bedenken; heute heißt dies etwa Folgenabschätzung, bevor mensch ein evtl. neues Übel in die Welt setzt.

1 G. K. Chesterton, engl. Schriftsteller und Journalist (29.5.1874 – 14.6.1936)

Bernd Kuck      
Oktober 2023

direkt bestellen:


Eine kurze Geschichte
des Fortschritts


Oder in der nächstgelegenen Buchhandlung! So landen die Steuereinnahmen zumindest in "unserem" Steuersäckel, was theoretisch eine Investition in Bildung und Erziehung ermöglichen würde.
In Bonn-Bad Godesberg z.B. in der Parkbuchhandlung
Oder finden Sie hier eine Buchhandlung in Ihrer Nähe:
Buchhandlung finden

zurück