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Günter Weier (Hrsg.): Leben heißt, Schwierigkeiten überwinden. Tiefenpsychologische Betrachtungen zur Psychohygiene im Alltag. Quercus-Verlag, Berlin 2001


Der Leser wird heute überschwemmt mit einer Fülle von Tipps und Tricks zur körperlichen Gesundheit und Fitness. In aller Regel wird dabei übersehen, dass der Mensch eine Einheit ist, die neben dem Körperlichen auch das Geistige und Seelische umfasst. Wie soll sich jemand in der Sphäre des Geistes entwickeln? Diese wichtige Frage wird auf den Seiten der Journalen kaum je erörtert. Die Autoren dieses Bandes, die allesamt dem Institut für Tiefenpsychologie in Berlin assoziiert sind, versuchen auf 266 Seiten diese Lücke zu füllen.

Die Aufsatzsammlung beginnt mit einem Paukenschlag: mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Individualpsychologe Alfred Adler hat dieser Frage 1933 ein Buch gewidmet und der Autor Günter Keesen geht ausführlich darauf ein. Einige Menschen sehen den Sinn des Lebens darin, zu dominieren und zu herrschen, eine zweite Gruppe erwartet viel von anderen und kultiviert das Nehmen, die Dritten sehen den Sinn des Lebens darin, sich durch Vermeidung von Aufregung und Verantwortung ein ruhiges Lebens zu machen, und eine vierte Gruppe sieht den Sinn des Lebens in Kooperation und konstruktiver Beitragsleistung. In unseren Werken für die Allgemeinheit drückt sich der Sinn unseres Lebens aus. Die Art dieser Beitragsleistung wird nicht konkretisiert, doch wird hinreichend deutlich, dass sie gemeinschaftlich und sozial orientiert sein muss, um als wertvoll anerkannt werden zu können. Sinnsuche und –beantwortung braucht dabei nicht zu hoch angesetzt werden. Vernunft, Vorurteilsfreiheit und Tüchtigkeit zeigen sich im direkten Umgang mit den Mitmenschen und den Lebensaufgaben. Adlers Sinnverwirklicher ist leistungsorientiert, sowohl nach außen als auch in der Selbstvervollkommung.

Referiert Keesen weitgehend, so steigt Reinhold Köpke argumentierend in den schwierigen Begriff der „Zufriedenheit" ein. Die psychologischen Schulen haben dazu wenig bis nichts zu bieten und auch die Philosophie hat sich mit diesem Lebensgefühl nur am Rande befasst. Nach Freud wäre Zufriedenheit ein kurzer Zustand der Homöostase, der durch die biologischen Triebbedürfnisse immer wieder ins Wanken kommt und neu hergestellt werden muss. Nach Alfred Adler ist der primäre Zustand des Menschen nicht einer der Zufriedenheit, sondern prägend sei das Gefühl der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit. Wie ein Trieb will der Mensch aus diesem Mangelzustand heraus. Wenn der Mensch Geltung erlangt hat und anerkannt wird, mag er zufrieden sein, aber ausgeführt hat Adler diesen Gedanken nicht. Köpke entwickelt deshalb auf eigene Faust eine Struktur der Zufriedenheit mit einigen erhellenden Gedanken, u.a. dem, dass als Folge von (anerkannter) Leistung sich Zufriedenheit einstellen mag.

Rüdiger Schlott betont in seinem Rückgriff auf Lebensgestaltung in der Antike den „Moment der Unverfügbarkeit", den das Handeln im Leben immer begleitet. Natürliche Anlage und menschliche Anstrengung mögen gegeben sein, doch wenn die Gunst des Gottes, der Zufall oder die Situation nicht mitspielen, bleiben Anlage und Anstrengung wirkungslos. Die Bezüge der Psychoanalyse und der Individualpsychologie zur Antike sind eher dürftig. Der Ödipus-Komplex, den nach Freud angeblich alle Menschen zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr durchlaufen, hat mit der antiken Sage nichts mehr gemein. Bei der Individualpsychologie Alfred Adlers kann Schlott einige Parallelen zur antiken stoischen Schule aufzeigen. Für beide sind Tatsachen und Schicksale nichts, die Meinungen darüber alles; wer seine falschen Meinungen aufgeben kann, wird auch nicht leiden - eine problematische Haltung, da sie Veränderungen und Entwicklung ausschliesst.

Das stoische Hinnehmen des Gegebenen verschwand im Zuge von Demokratisierung und politischer Teilhabe an der Gesellschaft sowie mit der Herausbildung einer Individualität, die „wirkmächtig" sein möchte. Schon das kleine Kind freut sich an dem, was es bewirkt, und Antonovsky (der Erfinder der Salutogenese) hält die Zuversicht, dass es Möglichkeiten der Bewältigung von belastenden Ereignissen gibt, für einen entscheidenden Gesundheitsfaktor. Antonovskys Salutogenese konnte sich nicht durchsetzen, weil Gesundheit eben nicht einfach komplementär zur Krankheit ist, wie Gadamer feinsinnig ausgeführt hat. Irgendwo zwischen Krankheit und Gesundheit ist Neurose angesiedelt, wie Gerald Mackenthun für Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie darlegt. Sie haben jeweils spezifische Vorstellungen von Gesundheit, ebenso wie die Daseinsanalyse und Rattners Personalismus, die jeweils kurz vorgestellt werden. Person ist das vernünftige und zurechnungsfähige Wesen, das freiwillig unter moralischen Gesetzen steht. Gesundheit ist also nicht nur etwas Physiologisches, sondern reicht weit in die Psyche und in die Wertewelt hinein.

Günter Weier, der Herausgeber, macht einen Sprung in die Psychotherapie und erzählt sehr lebendig, was dort passiert und womit Analysanden und Klienten rechnen können. Das Ganze ist eingebettet in theoretische Überlegungen zur Psychotherapie und ergibt insgesamt einen ausgezeichneten ersten Einblick in das, was einen in einer tiefenpsychologischen Psychotherapie erwartet.

In die Niederungen von Ehe und Partnerschaft und ihren Streitigkeiten steigt der Beitrag von Gisela Greulich-Jansen hinab. Die Quellen für Irritation und Missverstehen sind endlos und die Autorin kann sie jeweils nur anreißen. Sie plädiert für gegenseitige Toleranz und Geduld sowie für innere produktive Selbsterforschung als Gegenmittel. Mehr als abstrakte Lebensweisheiten kann der kurze Beitrag nicht geben. Zudem ist fraglich, ob die „innere Entwicklung" ein gutes Mittel gegen Streit und Zerwürfnis ist. Stil, Richtung und Inhalt von Selbstwerdung werden immer umstritten sein. Wann arten Kompromisse in Beliebigkeit aus? Wann kippt Toleranz in Gleichgültigkeit um? Ab wann blockiert Nachgiebigkeit jede notwendige Entscheidung? Wann wird Anpassungsfähigkeit zur Gesinnungslosigkeit? Auf solche Fragen kann oftmals selbst eine langjährige Therapie keine Antworten geben.

Der Eifersucht widmet sich Gisela Schwarz. Sie leitet ihren Aufsatz ein mit dem Beispiel von Othello, der durch Jago eifersüchtig gemacht wird. Othello gilt als der Prototyp des Eifersüchtigen. Meines Erachtens wird zu wenig die Situation gesehen: Jago erzeugt in Othello aus Neid auf dessen militärischen Erfolgen die Eifersucht. Shakespeares Drama beginnt zumindest mit Neid und Intrige, die in Eifersucht fortgeführt wird. Ohne Neid und Intrige wäre Othello nicht eifersüchtig geworden. Die Eifersucht wird induziert, was in der Interpretation dieses Dramas meist übersehen wird, auch bei Schwarz. Andererseits gelingt Jagos Plan so einfach, weil es ihm mühelos gelingt, Othello eifersüchtig zu machen. Der Betrachter mag an Othellos feste und sichere Liebe kaum glauben. Othello ist stärker im Verdächtigen als im Lieben. Wie schon bei Greulich-Jansen wird wohlverstandene Selbstverwirklichung als fast alleiniges Mittel gegen Eifersucht und Neid genannt, doch übersehen, dass beides durchaus nebeneinander existieren kann, wie Schwarz am kurz erwähnten Beispiel Fontanes selbst erwähnt. Im übrigen wird aber die Eifersucht durch viele kluge Beobachtungen einsichtig gemacht.

Der gelingenden Sexualität spürt Hermann Schuppenhauer nach. Gemäß der Adlerschen Hypothese ist die Sexualität Ausdruck eines individuellen Lebensstils, welcher sich wiederum entwickelt aus einem mehr oder minder starkem Minderwertigkeitsgefühls des Kindes. Diese theoretische Grundlage stellt ein Problem dar: Wenn nicht in allen Kindern ein Minderwertigkeitsgefühl zu entdecken ist, muss dieses bei Adler so zentrale Gefühl in seiner Bedeutung heruntergestuft werden und kann folglich für das Sexualleben nicht mehr als unbedingt determinierend angesehen werden. Andererseits kann nicht geleugnet werden, dass die Erziehung und das Vorbild der Eltern die Vorstellung von Sexualität und die dort gezeigten Fähigkeiten oder Störungen entscheidend beeinflussen.

Wie Adler - und die Tiefenpsychologie überhaupt - konzentriert sich Schuppenhauer auf die Persönlichkeitsstruktur des sexuell Empfindenden und blendet damit die erzieherische Vergangenheit und die konkrete Situation (wie auch andere Autoren dieses Bandes) weitgehend aus. Sicherlich wird ein Mensch, der unter Angst vor Hingabe und Schwäche leidet, zu sexuellen Störungen tendieren - aber woher kommen die Angst vor Hingabe und Schwäche? Hemmend wirkt sich zudem aus, dass Adler die Charakterstruktur des gesunden oder normalen Menschen niemals umfassend beschrieb. Dass Liebe und Sexualität gelingen, wenn auch die anderen Lebensprobleme produktiv gelöst sind, mag stimmen, doch scheint damit keine Garantie verbunden zu sein. Auch sind Konstellationen denkbar, in denen Liebes- und Sexualfähigkeit nicht Hand in Hand gehen. Schopenhauer hält nach vielerlei Überlegungen schließlich die Besonnenheit für eine Kardinaltugend, die auch der Sexualität zu Gute komme. Beispiele für Unbesonnenheit im sexuellen Verhalten sind vielfältig. Sie zeigt sich u.a. im Umgang mit dem Problem der Partnerwahl oder der Schwangerschaftsverhütung.

Goethe litt unter Höhenangst und Schwindelgefühl und er bekämpfte dies u.a. damit, dass er auf die höchsten Zinnen des Strassburger Münsters kletterte und von dort herab schaute. Das ist eine klassische Verhaltenstherapie und hat mit neurotischer Angst, mit der sich Dorothee Friebus-Gergely beschäftigt, eigentlich nichts zu tun. Insofern taugt das Beispiel Goethe wenig, um die Hypothese von der menschlichen Grundangst, verunsichernde Erziehung der Eltern oder mangelhafte Ich-Du-Beziehung zu exemplifizieren. Für Tiefenpsychologen sind Flugangst oder Platzangst nur äußere Erscheinung eines tieferliegenden existenziellen Missverständnisses, das es in der Psychotherapie zu bearbeiten gilt.

Mutterliebe, d.h. die enge Bindung an ein Kind, verbunden mit einem hohen persönlichen Betreuungsaufwand, ist eine „Erfindung" der Neuzeit. Jean-Jacques Rousseau hatte entscheidenden Anteil daran, dass Frauen sich wesentlich intensiver um ihren Nachwuchs kümmerten, als es in den Jahrhunderten davor der Fall war. Psychoanalyse und Individualpsychologie missverstanden die gesellschaftlichen Anforderungen an „Mutterliebe" als naturgegeben oder evolutionär geprägt. Kürzlich hat Sarah Bluffer Hrdy eindrücklich nachgewiesen, dass Weibchen bzw. Mütter ihr Engagement für den Nachwuchs stark von ihrem sozialen Umfeld abhängig machen, was der Vorstellung von unbedingter Mutterliebe den Boden entzieht.

Das männliche Vorurteil von der unbedingten Mutterliebe führte zur Annahme, dass die Mutter fast allein entscheidend für die seelisch-geistige Entwicklung eines Kindes ist. In einer überspitzten Formulierung: Das Kind wird so, wie die Mutter ist. Neben der wichtigen Erkenntnis der Bedeutung der Mutter für die Erziehung erwuchs damit auch die Gefahr der Schuldzuweisung und Pathalogisierung der Mütter bei Nichterfüllung der mütterlichen Funktion. Mangel an Mutterliebe wurde zum moralischen Defekt. Insbesondere die Psychoanalyse spielt hier eine zwiespältige Rolle, wie Katharina Kaminski in ihrem Beitrag über Mutterliebe heraus arbeitet. Es falle auf, dass in der Psychoanalyse ausschließlich Eigenschaften mit negativem oder sogar psychopathologischem Akzent zur Charakterisierung der gesunden, liebesfähigen Frau verwendet werden, nämlich Passivität, Masochismus und Narzissmus. Die überragende Bedeutung der Mutter betont auch die Individualpsychologie, doch sah Adler auch die Gefahr einer zu engen Mutter-Kind-Beziehung und ein Eingesperrtsein der Frau in eine enge Häuslichkeit.

Kaminski setzt sich nicht wirklich mit Freud und Adler auseinander, denn das würde nur mit Kritik gehen, sondern flüchtet sich zu Simone de Beauvoir, die das Ideal einer emanzipierten, lebenstüchtigen, sich selbst bejahenden Mutter entwirft, die am besten der großen Aufgabe der Erziehung gerecht werden könnte. Die Autorin sieht die Gefahr einer Überbürdung der Mutterrolle durch zuviel Verantwortung, Schuldzuweisung oder gar Pathologisierung, weist diese Anforderungen männlicher Psychologen aber nicht zurück. Das hochinteressante Thema verbleibt im Theoretischen und erfährt keine Überprüfung an der Praxis. Ihr interessanter Ansatz, der anders als die anderen Beiträge des Buches nicht von Freud, Adler oder Rattner ausgeht, verbleibt im Referieren tiefenpsychologischer Ansätze. Das gilt auch für Beauvoir und ihr Ideal der emanzipierten Frau. Ob und wie dieses Ideal zu leben wäre, bleibt leider unerörtert.

In einer kurzen Sichtung der Theorien über das Jugendalter zieht John Burns das Fazit, dass Jugendliche nach Entwicklung streben und dabei die freundliche aber feste Führung von Erwachsenen brauchen. Die Erzieher sollten die Erfahrung vermitteln, dass Schwierigkeiten überwunden werden können.

Mit dem Ausscheiden aus dem Beruf ergeben sich neue, auch zeitliche Freiräume. Man kann Bildungslücken schließen, Freundschaften wieder aufleben lassen oder neue schließen und sich um soziale Belange kümmern. Die Pflege der menschlichen Solidarität ist einer der vornehmsten Aufgaben. Hier kann man sich noch einmal verstärkt im Alter widmen. Marianne Röhl-Schlott versucht den Blick auf ein sinnvolles Altern zu lenken. Das höhere Lebensalter nach der Pensionierung kann bei guter Vorbereitung in ein erfülltes Leben münden. Diese positive Ausrichtung kann die Autorin wählen, weil sie den Haupt- und Kulminationspunkt des Älterwerdens umschifft: das Sterben müssen. Sie folgt damit anderen Autoren, die Entwicklungsfähigkeit sehen, „wenn nicht Krankheit, Armut oder seelisches Leid einen niederdrücken". Aber das ist ja gerade das Problem: Krankheit, Armut und seelisches Leid werden mit zunehmendem Alter immer wahrscheinlicher.

Von eigener Art ist ein weiterer Aufsatz in diesem Sammelband von Reinhold Köpke über Konflikte und Konfliktfähigkeit. Er interpretiert Freud und Adler auf eigenwillige Art, die nicht von unangenehm berührender Ehrfurcht vor den Großvätern der Tiefenpsychologie geprägt ist, was seinen Ausführungen einen erfrischenden Ton gibt, den man nicht in allen Beiträgen findet. Wie schon in seinem Beitrag über Zufriedenheit verzichtet Köpke auf die Angabe von Literatur. Hier denkt einer auf eigene Faust.

Etwas unvermittelt stolpert der Leser dann in einen Essay über Merleau-Ponty von Irmgard Fuchs-Levy hinein. Was Freud und Adler mit angreifbarer Scheingewissheit über den Menschen formulierte, hält Merleau-Ponty in der Schwebe. Der Mensch ist sowohl Körper als auch Geist, er ist gebunden in der Biologie als auch frei in der Transzendenz, er ist Materie und Künstler gleichermaßen. Materie, Psyche und Geist sind nichts Gegensätzliches, sondern gleichzeitig wirkende Bedeutungsebenen. Das ist eine andere Auffassung als die von Adler, der Neurose als einen schöpferischen, wenn auch schiefen Akt betrachtet. Im Großen und Ganzen erschließt sich Merleau-Ponty auf diesen wenigen Seiten nicht. Er scheint ein schwieriger und schwer zu verstehender Existenzialist zu sein. Auch bleibt es bei einer skizzenhaften Vorstellung. Eine Diskussion oder ein Vergleich findet nicht statt.

Herausgeber Weier kommt noch einmal auf Adler zurück, speziell auf dessen These von der Notwendigkeit des Gemeinschaftsgefühls. Das Gemeinschaftsgefühl war bekanntlich der Dreh- und Angelpunkt der Adlerschen Psychologie. Jede seelische Regung wurde daraufhin abgeklopft, ob sie gemeinschaftsdienlich sei oder nicht. Das es in der Geschichte der Menschheit oftmals an Gemeinschaftsgefühl gefehlt hat und nach wie vor fehlt, wird niemand bestreiten wollen. Elemente des Gemeinschaftsgefühls sind Solidarität, Kooperation, Kommunikationsfähigkeit, Anerkennung von eigener Existenz und Eigenwüchsigkeit (gerade auch bei Kindern), Gewaltlosigkeit, Gefühlsreichtum, Tüchtigkeit, weitgehende Aggressionsfreiheit und Interesse an Kultur. In dieser Hinsicht solle und könne der Mensch sich vervollkommnen, betonte Adler.

Wie viele andere Autoren dieses Bandes verzichtet Weier darauf, Adlers Postulat auf seine Stichhaltigkeit und Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Adler verwässerte dieses Konzept im Laufe seiner Lehrtätigkeit, in dem er das Gemeinschaftsgefühl auf eine spätere, ideale Gemeinschaft verschob. Hätte er die konkrete Anwendbarkeit geprüft, wäre ihm vielleicht aufgefallen, das unterschiedliche Gemeinschaftsgefühle in Konflikt treten können. Für solche Fälle hatte Adler keine Handlungsmaximen parat.

Ohne Zweifel war Adler ein Atheist oder besser gesagt: Über Religion hat er je kaum nachgedacht. Sie interessierte ihn einfach nicht, obwohl er im Alter zusammen mit einem Pfarrer das Buch „Religion und Individualpsychologie" herausgab. In diesem sah er einige Parallelen zwischen einer humanistischen Religiosität und der Individualpsychologie. Möglicherweise suchte er im Zeichen des aufkommenden Faschismus nach Bündnisgenossen. So radikal, wie Gerhard Danzer meint, war Adlers Atheismus offenbar nicht. Adlers Vorstellung von Religion und Religiosität war recht einseitig und offenbar geprägt vom österreichischen Katholizismus. Neben der natürlichen Minderwertigkeit trat seines Erachtens im Rahmen einer religiösen Erziehung und Weltanschauung auch noch eine kulturell vermittelte Inferiorität hinzu. Der Mensch ist ein Nichts im Vergleich zu Gott, doch übersah Adler (genauso wie Danzer) die Stellung des Menschen als Geschöpf Gottes und als Krone der Schöpfung, was Anlass für ein starkes Gefühl der Überlegenheit, wenn nicht gar der Überheblichkeit war und ist.

Wenn Adler Atheist war, dann wegen der bigotten Kleingeisterei, gegen die schon Nietzsche rebellierte. Die Leistungen der Moraltheologie oder die Friedensbotschaft der Bibel ignorierte Adler (und Danzer). Die religiöse Weltanschauung ist nicht nur verwöhnend, sondern auch fordernd, in ihren Geboten vielleicht sogar überfordernd. Andererseits kann über die Kumpanei der Kirche mit den Autoritäten und dem autoritären Staat kein Zweifel bestehen. Über einige quasi religiöse Einspringsel in seiner Lehre, beispielsweise die Verheißung einer Gesellschaft, in der Gemeinschaftsgefühl sozusagen angeboren ist, war sich Adler durchaus nicht im klaren. Ganz sicher aber war Adler die Idee eines personifizierten, allmächtigen Gottes völlig fremd. Statt dessen orientierte er auf die Mitmenschen, die uns berühren und die unser Echo sind.

Bemerkenswert ist der Schlussbeitrag über „Lebenskunst", weil er nicht so sehr darum bemüht ist, Adler oder Rattner zu referieren, sondern in eigenen Gedanken ein Problem umkreist. Herausgeber Weier und seine Ehefrau Bärbel Smikalla-Weier, eine Pianistin, nähern sich einfühlsam der Kunst und ihrer Bedeutung für das Menschsein. Kunst erschaffe eine ideale Welt mit Sinn, Schönheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit. Kunst fordert zu einem weltoffenen und weltöffnenden Dasein heraus. Lebenskunst hat demnach immer was mit Selbstschöpfung und Selbstverwirklichung zu tun. Leben ist eine Aufgabe, die nur in wohlwollender Verbundenheit mit den Mitmenschen zu lösen ist. Geborgenheits- und Zugehörigkeitsgefühle sind die Früchte dieser Bemühungen.

Die Aufsätze sind durchgehend von hoher Qualität und man findet nicht die Schwankungen in Niveau und Stil, die Sammelbände manchmal zu einer etwas mühsamen Lektüre machen. Ein insgesamt schönes Buch, trotz seines etwas drögen Titels und zuviel Ehrfurcht vor Adler und der Individualpsychologie. Doch in einzelnen Passagen blitzen Gedanken auf, die erheben und froh stimmen und die von einer tieferen Weisheit inspiriert sind.

Jens Nauman



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