Trautmann-Voigt,
Sabine; Voigt, Bernd (Hg.) (2009): Affektregulation und Sinnfindung
in der Psychotherapie. Gießen
(Psychosozial-Verlag). 273 S., broschiert, Juni 2009.
Körperpsychotherapie
hat es nicht in die Liste der von Krankenkassen bezahlten
Therapiemethoden gebracht, spielt aber als Fortbildungsangebot für
approbierte Ärzte und Psychologen eine zunehmende Rolle.
Versucht wird, der Anschauung von der untrennbaren Einheit von Geist,
Seele und Körper gerecht zu werden. Die dabei angewandten
Verfahren sind fast alle tiefenpsychologisch orientiert, gehen also
von der Grundannahme eines Unbewussten im Menschen aus, unterscheiden
sich aber oftmals erheblich in ihrem konkreten Vorgehen. Der
Sammelband „Affektregulation und Sinnfindung in der
Psychotherapie“ vereint 13 qualitativ recht unterschiedliche
Aufsätze von Krankenhausärzten und niedergelassenen
Psychotherapeuten aus dem Köln-Bonner Raum. Anders als der Titel
vermuten lässt, befassen sie sich mit den Grundlagen und der
Anwendung von Körperpsychotherapie, ohne sich thematisch allzu
sehr einengen zu lassen. Herausgeber sind Sabine Trautmann-Voigt und
Bernd Voigt, sie Psychologische Therapeutin und er Facharzt für
psychotherapeutische Medizin, beide erfahren in Körper- und
Tanztherapie.
Körperorientierte
Verfahren beziehen ihre Legitimation aus dem Umstand, dass nichts
Menschliches ohne den Körper stattfindet. Zusätzlichen
Schwung erhalten sie über die aktuelle neurologische Forschung
und die explosionsartig anwachsenden Erkenntnisse aus der
Hirnforschung. Auch das Gehirn ist Körper.
Körperpsychotherapeuten sind von der Entdeckung der
Spiegelneuronen genauso elektrisiert wie alle übrigen
Psychologen. Intersubjektivität erlaubt gemeinsames Handeln,
beispielsweise sich synchron zu bewegen beim Tanz. Diese Fähigkeit
muss, wie fast alles andere Menschliche auch, angeregt, gelernt und
immer wieder geübt werden. Man kann die These aufstellen: je
besser die Spiegelneuronen trainiert sind, desto größer
das Repertoire zur Bewältigung von Lebenssituationen.
Doch
bloße Aktivität im Gehirn offenbart noch keine Inhalte.
Darauf macht Bernd Kuck in einem Aufsatz über den "Sinn des
Lebens“ bei Alfred Adler aufmerksam. Wenn die Psychologie
profitiert, dann nicht nur von der Neurobiologie, sondern mehr noch
von der Philosophie, genauer gesagt von einer philosophischen
Anthropologie (die selbstverständlich die Forschungsergebnisse
der Naturwissenschaften mitberücksichtigt). Dazu habe Adler
dezidierte Antworten gegeben, und Autor Kuck selbst erfüllt
souverän die Forderung nach einer philosophischen Anthropologie.
So ist zum Beispiel die Benutzung des Begriffs Holon (Ganzheit)
geeignet uns verstehen zu lassen, warum ein Gehirn nicht denken kann,
wohl aber der Mensch, wiederum jedoch nicht eine Gemeinschaft oder
eine Gesellschaft. Damit wird auch klar, dass sich nicht "die
Natur" oder "das Leben" die Sinnfrage stellen kann,
sondern nur der einzelne Mensch und schon nicht mehr ein anderes
Säugetier.
In
einer heute nicht mehr vertretbaren Weise extrahierten Alfred Adler
und die frühe Individualpsychologie den Sinn des menschlichen
Lebens aus dem "kosmischen Gesetz" der Sozialität.
Adler sah den Sinn des Lebens in einem gemeinschaftlichen Leben und
in der Vervollkommnung jedes einzelnen Individuums. Kuck hält
diese Sichtweise zu Recht für nicht mehr befriedigend. Die
Evolution kennt keinen Zweck und kein Ziel. Das Gemeinschaftsgefühl
als leitende Fiktion kann sich also nur der Mensch ausgedacht haben.
Sozialinteresse und Solidarität können richtungsweisende
Handlungsaufforderungen sein, sie sind aber nicht die einzig
wirksamen Handlungsmaximen im Menschen, sondern stehen antagonistisch
zur Personalität, zur Individuation und zur zweckfreien
Wissenschaft und Kunst.
Emotionen
sind extrem körpernah, betont der Psychologe Frank van Well in
seinem Beitrag. Indem ich auf meine körperlichen Reaktionen
achte, kann ich meine bewusste Wahrnehmung von Emotionen schulen und
verifizieren. Und man kann Emotionen durch Körperveränderungen
in Atmung, Tanz, Bewegung, Autogenem Training usw. beeinflussen. Dazu
zieht er die Berliner Gestalttheorie, die Leipziger
Ganzheitspsychologie, die neuere neurologische Forschung, den
neuropsychoanalytischen Ansatz von M.Solms und S.Freud heran, um
schließlich bei Greenbergs emotionsfokussierter Therapie zu
landen. Das bestätigt leider nur, dass Freud einen
mathematisch-energetischen Ansatz verfolgte, der zwar von der
Neurobiologie bestätigt wird, aber schon vor Jahrzehnten als
ungeeignet zum Verständnis der Psyche bezeichnet wurde.
Jedenfalls wird vom Autor noch einmal hervorgehoben, dass ein
Großteil des Verhaltens unbewusst ist, dass alles Erleben und
Verhalten überdeterminiert ist, dass jede Situation vom Gehirn
organisiert (und nicht nur einfach abgebildet) wird, und dass jeder
Bestandteil der psychischen Struktur einen aktuellen Anlass braucht,
um sich verwirklichen zu können.
Grundlage
aller Selbstregulierung ist das Erkennen von Affekten sowie ihre
rasche Bewertung. Wohltuende und wohlmeinenden Affekte werden als gut
beziehungsweise positiv klassifiziert, schädigende und Schmerzen
bereitende als schlecht beziehungsweise negativ. Die Bewertung als
gut oder schlecht ist allerdings problematisch, betont Marianne
Eberhard-Kaechele, da alle
Affekte
evolutionsrelevante und somit lebensnotwendige Funktionen haben. Ein
negatives Gefühl wie Wut hat eine ebenso starke Signalwirkung
wie ein gutes Gefühl. Dauerhafte negative Emotionen sind anders
zu bewerten als kurzzeitige Affekte. Blockierte negative Gefühle
sollen in der Therapie zwar ermöglicht, aber auch begrenzt und
durch positive Affekte ausgeglichen werden.
Die
bloße Reproduktion von negativen Affekten in der Tanztherapie,
die zur großen Gruppe der Körperpsychotherapieverfahren
zählt, wurde bald aufgegeben, weil die Wiederholung zu schnell
zu stark in eine Verstetigung führte. Selbstbeobachtung und
Reflektion auf der Basis der Körpererfahrung wurden wichtiger.
Der "innere Zeuge" ermöglicht Selbstregulation. Die
Pionierin der Tanztherapie, Liljan Espenak, fand in der
Kulturgeschichte des Tanzes therapeutische Interventionen zur
Förderung der Affektregulation. Ekstase, Trance, Katharsis,
Beschwörung, Verkleidung, Disziplin, Bewusstheit, Ritus,
Selbstkontrolle, Freiheit und Spontaneität – alles lässt
sich durch Tanz ausdrücken und spielt in der Tanztherapie auf
die eine oder andere Art eine Rolle. Das Primat der Sprache löst
sich auf. Das ganze Repertoire der Möglichkeiten wird von der
Autorin Marianne Eberhard-Kaechele kenntnisreich ausgebreitet.
Körperliches
Erleben kann in praktisch allen Psychotherapienformen mit
herangezogen werden, natürlich auch in der Traumabehandlung
(Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt). Die Fühl-, Denk- und
Handlungsblockaden in der posttraumatischen Belastungsstörung
sind ja mit den Händen zu greifen. Die beiden Herausgeber des
Buches stellen in ihrem eigenen Beitrag Grundannahmen und praktische
Anwendungen ihrer multimodalen Trauma-Psychotherapie vor, die auf der
tiefenpsychologisch fundierten Tanztherapie beruht. Sie sind so
souverän zu betonen, dass es nicht eine
Methode sein kann,
die hilft, mit traumatischen Erlebnissen besser leben zu können.
Vielmehr sollte das therapeutische Vorgehen an jeden Patienten
individuell angepasst werden. Ihre Leitidee ist: "Das Selbst ist
wie ein Haus mit vielen Türen, durchschreite die, die gerade
offen ist".
Bei
der Lektüre fällt an einigen Beiträgen [van Well,
U.Sachsse, R.Vogt) die sprachliche Verkomplizierung von eigentlich
alltäglichen Interaktionen auf. Die mehr oder weniger sinnvollen
Handlungsmuster werden mit einem neuen Vokabular belegt, von denen
der Alltagsverstand sagt, dass sie für die Kommunikation mit den
Patienten untauglich ist. Das gilt im Prinzip schon für die
Psychoanalyse. Wie gelingt denn eigentlich das Übersetzen
dessen, was vom Patienten erwartet wird, in dessen Sprache? Im Grunde
geht es um das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Affekten wie
Wut oder Angst. Warum bedarf es eines Inszenierens, eines
Mentalisierens, einer Vitalisierung, einer Reintegration, der
Sensibilisierung, der Körperselbstkontrolle, der Stabilisierung
der Körpergrenzen? Das kann man natürlich alles so
benennen, aber hilft es dem Patienten?
Das
manchmal hohe theoretische Abstraktionsniveau steht im verblüffenden
Gegensatz zu der Begegnung eines Vaters und seines Sohnes mit dem
"Therapiehund" des Therapeuten Konrad Oelmann. Wenn ich es
recht verstehe, sind die "Inszenierungen" das, was andere
Rollenspiele nennen, oder handelt es sich hier um Provokationen? Der
therapeutische Prozess mag als Re-Inszenierung des unbewussten Dramas
definiert werden, aber sollte nicht die Frage diskutiert werden, ob
ein Patient dazu in der Lage und bereit ist?
In
einer bioenergetischen Gruppe werden Rituale südamerikanischer
Indios aufgeführt. Der Grad an regressiver Selbstentäußerung
ist frappant. Die Erfahrungen in solchen Gruppen sind ohne Zweifel
beeindruckend. In Gruppen werden Beziehungsmuster schneller deutlich
als in Einzelgesprächen, das wusste schon Irvin Yalom. Deutlich
wird bei Oelmann anhand mehrerer Fallvignetten, wie die dosierte
Verwendung körperlicher Angebote sein analytisches und
tiefenpsychologisches Vorgehen sinnvoll ergänzen. Die einzelnen
Ingredienzien dieses Vorgehens werden immer neu gemixt und an die
Bedürfnisse des Patienten angepasst.
Die
anschaulichen Fallbeispiele von Gabriele Oelmann führen direkt
hinein in den vielschichtigen Prozess körpertherapeutischer
Arbeit. Wichtig scheint zu sein, anschließend die körperliche
Erfahrung zu verbalisieren. G.Oelmann macht nicht den Fehler,
Körpertherapie als allein seligmachendes Verfahren zu preisen,
vielmehr benennt sie die möglichen Schattenseiten und Gefahren
der körpertherapeutischen Intervention. Interventionen machen
einen Sinn, wenn sie einen neuen oder zusätzlichen Zugang zu
verdrängten Affekten möglich machen.
Manchmal
entsteht der Wunsch, diese Quälereien mögen aufhören.
Therapeuten appellieren dann zu schnell an die Bewältigungsressourcen
und an die Einsicht des Patienten. Die frühe
Individualpsychologie ist dafür ein gutes Beispiel. Eine
vorschnelle Harmonie kann von den verschütteten Wünschen
nach Liebe und Zuneigung wegführen. Dieser Prozess dauert lange,
und die Beispiele von Oelmann betreffen Patienten, die schon
mindestens eine "vollständige" Therapie hinter sich
hatten und nach weiteren Erfahrungen suchten. Affekte können
zugelassen, unterbrochen oder verstärkt werden. Die
Stabilisierung des Ich scheint wichtiger zu sein als die
Durcharbeitung des Traumas, und manchmal sind Therapien nicht lang
genug, um zum zweiten Punkt zu kommen. Dabei müssen manchmal
schwierige Affekte ausgehalten werden. Gleichzeitig muss vom
Therapeuten erwartet werden, dass er in der Lage ist, diese Affekte
zu regulieren. Den Beitrag von Gabriele Oelmann halte ich für
den interessantesten und brauchbarsten des Buches.
Wie
kann das Körperselbstbild und -erleben gemessen werden? Peter
Joraschky, Direktor der Klinik für Psychotherapie und
Psychosomatik am Universitätsklinikum Dresden, und Mitarbeiterin
Karin Pöhlmann stellen dazu den Dresdner Körperbild-Fragebogen
(DKB-35) vor, ein Fragebogen zur Erfassung von Einstellungen zum
eigenen Körper. Gesunde und psychisch Kranke unterscheiden sich
stark in ihrer körperlichen Selbstakzeptanz, was nicht weiter
verwundern dürfte. Adipöse haben ebenso wie
Anorektikerinnen in allen Aspekten des Körperbildes negativere
Einstellungen zu ihrem Körper als gesunde beziehungsweise
normalgewichtigen Personen. Sie fühlen sich körperlich
weniger leistungsfähig und akzeptieren ihren Körper
weniger, sie lehnen Körperkontakt stärker ab und bewerten
ihr sexuelles Erleben negativer. Die Autoren erläutern den
Fragebogen am Beispiel einer Patientin mit einer Borderline-Störung
mit schweren Selbstverletzungen nach sechsjähriger
Psychotherapie. Die Patientin konnte soweit wiederhergestellt werden,
dass sie als Landärztin arbeitet. Was die beiden Autoren nicht
thematisieren ist die äußerst marginale Rolle des
Körperfragebogens für den Therapieprozess.
Gefühle
und Affekte spielen in jeder Therapie eine Rolle, aber "mörderische
Affekte", wie Ralf Vogt behauptet? Unangenehm ist der
intellektualistische Stil des Autors, der zu solchen Wortungetümen
greift wie Täterintrojektchronifizierungstendenz. Seltsam fällt
auch der hohe Abstraktionsgrad auf im Vergleich zu banalen
körperlichen Übungen wie Klotzschieben, Riesensacktreten
oder „Davongehen in Zuggurten“. Der Leser fragt sich, ob
der Autor in der Lage ist, ein normales Gespräch mit einem
Klienten zu führen. Es wird die These aufgestellt, dass
Patienten nach der Psychoedukations- und Stabilisierungsphase in der
Lage sind, ihre Affekte in einer Stärke von 40 bis 60 Prozent
selbst zu steuern. Im wesentlichen scheint es darum zu gehen, extreme
Affektzustände dosiert zum Ausdruck zu bringen, um eine
Psychotrauma-Bearbeitung einzuleiten.
Zwei
Beiträge fallen aus dem Rahmen. Der Bonner Theologie-Professor
Ulrich Eibach wendet sich in seinem Beitrag zurecht gegen die
Ansicht, Religiosität sei ein reines "Hirnprodukt".
Trotz aller Erkenntnisfortschritte in der Hirnphysiologie lassen sich
Denk- und Gefühlsakte nicht als bloßes Epiphänomen
physiologischer Hirnvorgänge definieren. Buchtitel wie "Sitzt
Gott im rechten Schläfenlappen?“ dienen eher der
Verkaufsförderung, weniger der Erkenntnis. Die Tatsache, dass
bestimmte benennbare Gehirnareale aktiv sind bei religiösen
Erlebnissen sind allerdings kein empirischer Beweis für die
Existenz Gottes. Eibach möchte das Eigentliche der Religiosität
bewahren. Aber was ist das? Er bezeichnet das Gehirn als "Empfänger
des Geistes Gottes". Er müsste nach dem bisher Gesagten
davon ausgehen, dass der Geist Gottes eine materielle Basis hat. Das
ist, zurückhaltend gesagt, fraglich. So klug und interessant
seine Ausführungen sind, hier hat sich ein Denkfehler
eingeschlichen. Für die Existenz Gottes jedenfalls liefert die
Neurobiologie weder Beweise noch Gegenbeweise.
Dem
Kölner Arzt und Psychotherapeuten Konrad Heiland fiel auf, dass
Psychoanalyse und Jazz sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallel
entwickelten. Woody Allan hat wie kaum ein anderer diese Parallelität
zum Ausdruck gebracht. In einem Schwindel erregenden Wirbel verbindet
Heiland das Jüdische, das Schwarze, das Tenorsaxophon, den
Antisemitismus, Adorno, verschiedene Jazz-Stilrichtungen, Charly
Parker, Miles Davies, den kontrollierten Kontrollverlust in der
Improvisation, die freie Assoziation in der Psychoanalyse, die
Arbeitsbedingungen im Kapitalismus, die Abgründe der Jazz-Keller
und die Abgründe der Seele, Keith Jarrett, Oliver Sacks usw.
Haben
nach über 100 Jahren Psychoanalyse und Jazz ihre Blütezeit
hinter sich? Der Jazz wandelte sich und verschmolz mit anderen
Stilrichtungen, die psychoanalytische Theorie verband sich mit der
Praxis anderer Therapieformen. Jazz und Psychoanalyse scheinen gerade
deswegen nicht tot, sondern leben verwandelt weiter. Musiker und
Therapeuten bewegen sich in eleganter Leichtigkeit zwischen den
Stilen hin und her (sollten sie jedenfalls). In der Musik dominieren
heute andere Stilrichtungen und in der Psychologie die
Verhaltenstherapie. Zu entscheiden, ob das was zu bedeuten hat,
bleibt dem Leser überlassen.
Gerald Mackenthun, Berlin
1. März 2010
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