Spitzer, Manfred:
Aufklärung 2.0. – Gehirnforschung als Selbsterkenntnis,
Schattauer Verlag, Stuttgart 2010, 225 Seiten
Der Titel der
Textsammlung verspricht gleichsam ein update der tot gesagten
Aufklärung. Und im Untertitel wird gleich das Mittel dazu
genannt: Selbsterkenntnis unter Nutzung der Ergebnisse der
Hirnforschung. Kant forderte dazu auf, mittels der Vernunft der
selbst verschuldeten Unmündigkeit zu entgehen, was die
Aufforderung zum selber Denken beinhaltet. Da die Gottesidee einen
aufgeklärten Menschen nicht wirklich zufrieden stellen
kann, und die Götzen Markt bzw. Geld ihre lautstarken
Versprechungen nicht einlösen können, wohl eher zum Ruin
vieler betragen, fordert Spitzer dazu auf, die Ergebnisse der
Hirnforschung als [einen] Angelpunkt zum selber Denken zu nutzen. In
diesem Sinne könnte die Gehirnforschung etwas zu unserer
Selbsterkenntnis beitragen. Spitzer sieht die Wissenschaft durchaus
nicht als wertneutral, ja fordert den Wissenschaftler geradezu dazu
auf, sein Tun ethisch zu begründen. Dabei kann er es nicht
lassen, Vertreter der Geisteswissenschaften polemisch zu entwerten.
Positiv gewandt könnte man ihn so verstehen, dass
naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht einfach ignoriert
werden dürfen – aber deren Interpretation ebenfalls
erkenntniskritischer Überprüfung bedürfen.
Spitzer bemüht sich hier durchaus, dicht an den Fakten zu
bleiben, macht aber kein Hehl daraus, dass er „nicht einfach
Ergebnisse aus der Gehirnforschung zusammen“ schreibt; „nein,
ich wähle Ergebnisse aus, die ich erstens für wichtig und
zweitens für vertretbar bzw. vertretenswert halte“. (S.
VI)
So hatte er kein
Interesse, ein paar Leute magnetresonanztomographisch zu begleiten,
die in ein paar Wochen von Afrika ans Nordkap laufen wollten. Er sagt
zwar nicht, dass er eine solche Aktion an sich für wenig
wertvoll hält, kam aber in der Vorüberlegung zu dem
Schluss, dass die wochenlange Lauferei kaum zu mentalen
Höchstleistungen führen würde und das
„wissenschaftliche“ Ergebnis wohl wäre, dass
Laufen dumm macht. Das wollte er nicht. Schön, dass diese
Untersuchung vorläufig unterblieb. Die Darstellung zeigt aber
auch die problematische Tendenz zur Verallgemeinerung
sogenannter „wissenschaftlicher“ Aussagen: Laufen macht
durchaus nicht dumm, sondern fördert sogar die Geistestätigkeit
durch bessere Versorgung des Gehirns – eben in intelligentem
Maß!
Eine britische Studie hätte Spitzer weder so
durchgeführt noch veröffentlicht. Sie zeigt, „dass
glückliche Kinder in entsprechenden Tests“ (ebd.) nicht so
genau auf Details achten wie traurige/unglückliche Kinder.
Daher, so die Autoren der Studie, sei die Forderung von Pädagogen,
Kinder sollten beim Lernen glücklich sein, kritisch zu
überdenken. Spitzer spitzt diese Aussage polemisch zu: „Nur
der traurig-zerknirschte Schüler ist ein genauer und damit ein
guter Schüler“ (VII) und führt sie so ad absurdum.
Dass Emotionen
Wahrnehmung und Verhalten Erwachsener beeinflussen, wissen wir
längst. Schön, dass Spitzer hier kritisch Stellung bezieht
und eine Lanze für Kreativität bricht. Und doch ist auch
dieses negativ bewertete Beispiel „wissenschaftlicher“
Forschung und Interpretation von deren Ergebnissen, eines von
vielen, welche eine Tendenz zu monokausaler Betrachtung offen legt.
Depressive Stimmung ist nicht gleich Detailversessenheit und
eine „glückliche“ Stimmung nicht automatisch
Garant für Kreativität. Im Gegenteil: Wir kennen Menschen,
die aus ihrer Bedrängnis kreativ Auswege suchen und finden,
indes „glückliche“ Dummköpfe in den Tag hinein
leben und sich nicht um die Belange von Mitmensch und Welt bekümmern.
Es reicht eben nicht aus, irgendwelche „Ergebnisse“
zu verallgemeinern, sondern es bedarf einer Zusammenhangsbetrachtung,
die eventuell eine philosophische Anthropologie bewerkstelligen kann,
in der zugleich naturwissenschaftliche Ergebnisse mit
kritischer geisteswissenschaftlicher Reflexion eine produktive
Verbindung eingehen.
Spitzer stellt
die Ergebnisse in gewohnt leichter und geschmeidiger Weise dar. Die
Lektüre wird nie langweilig. Aber immer bleiben die Ergebnisse
interpretationsbedürftig und verdeutlichen, wie zwingend und
dringend notwendig eine weitreichende Zusammenhangsbetrachtung ist.
Da hilft auch die Feststellung nichts, dass Frust schädlich und
Selbstvertrauen beim Lernen wichtig sind. Es bleibt immer noch zu
klären, was denn gelernt werden soll, was für den einen
Frust ist und was Selbstvertrauen! Immerhin ist vorstellbar, dass ein
Mensch mit Selbstvertrauen 60 % länger an einer ihm gestellten
Aufgabe dran bleibt. Auch, wenn die Aufgabe lautet: Baue mir eine
Waffe mit größerer Zerstörungskraft als die
Bomben von Hiroshima und Nagasaki?
Dem Grunde nach
ruft Spitzer wohl zu einer ethischen Stellungnahme auf. Und es ist
ihm nur zuzustimmen, dass zum aufgeklärten Dasein dazu
gehört,
„dass man die
vielen automatisch in uns ablaufenden Prozesse gut kennt. Denn nur
wer sein Unbewusstes durchschaut, wird nicht von ihm beherrscht,
sondern hat es seinerseits im Griff.“ (IX)
Warum dann aber
die Polemik gegen die Psychoanalyse, die immerhin ebenfalls einen
Zugang zum unbewussten Geschehen ermöglicht. Aber bitte nicht so
platt, wie auf Seite 103 angedeutet. Da kritisiert Spitzer im
Grunde einen Methodenkollegen, wenn er Freud mit der Behauptung
zitiert, dass die Unterdrückung einer Absicht die unerlässliche
Bedingung für das Zustandekommen eines Versprechers sei.
Freud hätte die Psychoanalyse gerne bei den Naturwissenschaften
angesiedelt und hätte es gut gefunden, wenn die Psychoanalyse
durch gesetzmäßige Aussagen weniger angreifbar wäre.
Es ist schlicht eine vereinfachende und falsche Aussage, wenn Spitzer
feststellt, dass Freud'sche Versprecher selten seien und ebenso
trivial, dass nicht jeder Versprecher ein Freud'scher Versprecher
ist. Amüsanterweise beschreibt Spitzer dann schon auf der
nächsten Seite, wie neuronale Vernetzungen das Phänomen
erklären. Was er neuronale Repräsentanz nennt, beschrieb
Freud als assoziative Verknüpfung (hier am Beispiel: „Was
soll ich dir vom Metzger mitbringen?“ - „Das ist mir
Wurst“.). Eine andere Formulierung bedürfte eines größeren
Aufwandes, um sie vom „Output“ fernzuhalten.
„Und wenn man dann abgelenkt ist und diesen bewussten (Denk-)
Aufwand nicht leisten kann, dann schleicht sich die aktivierte
Repräsentation dann eben doch in den Output...“ (S. 104).
Nichts anderes
sagt Freud! Wenn eine Frau findet, dass sich ihre Freundin einen
selbst gemachten aber hässlichen Hut aufgesetzt hat, sie
die Freundin indes nicht kränken will, dann hat sie neuronal
gesprochen zwei in Beziehung stehende neuronale Verbindungen
kreiert: Die Freundin hat sich selbst einen Hut „aufgeputzt“
(die Putzmacherin fertigte früher Kopfbedeckungen). - Die
Sprecherin findet aber, dass sie dieses Unterfangen verpatzt hat. Sie sagt also: "Da hast du dir ja einen schönen Hut aufgepatzt!"
Hier ist demnach eine assoziative oder neuronale Verknüpfung
entstanden die eine größere Chance hat, sich bei der
„Planung“ des „Output“ durchzusetzen. - Na
also! Ist doch schön, wenn wir nun noch ein neurophysiologisches
Modell zum Verständnis solcher Phänomene (eben der
Freud'schen Fehlleistungen) haben.
Interessant auch
die Untersuchung zur handelnden Aneignung von Werkzeug. Werkzeuge
gehören zu den Kulturleistungen des Menschen, nicht nur die
Inhalte von Büchern, die Kunstwerke und Ideen. Da es schwierig
ist, einem Erwachsenen noch etwas Neues zur Handhabung eines
gängigen Werkzeugs beizubringen, wurden sogenannte Nobjects
erfunden, nicht existierende Objekte, und am Computer generiert.
Solche Nobjects, ihnen zugewiesene Kategorien, deren Umrissformen und
Detailmerkmale wurden mit Kunstwörtern bezeichnet. Die
Handhabung dieser Nobjects wurde nun von zwei Gruppen gelernt.
In der einen mittels pantomimischer Handlung, in der anderen durch
zeigende Hinweise auf kritische Merkmale der Nobjects. Oberflächlich
betrachtet lernten beide Gruppen gleich gut. Bei der Zuordnung zu
übergeordneten Kategorien zeigte sich aber bald, dass die
Gruppe, die mittels Handlungspantomime lernte, deutlich schneller die
Zuordnung vornehmen konnte. Der handelnde Umgang mit Objekten
verbessert also den Lerneffekt. Wir wissen schon länger, dass
besser gelernt wird, wenn mehrere Sinne daran beteiligt sind. Was wir
handelnd uns erschließen, (Heidegger nennt das Werkzeug
das Zuhandene), können wir uns besser aneignen. Das
erwähnte Experiment sei nach Spitzer nun ein Beleg für den
Computer als ungeeignetes Lernmedium für Kinder, da hier
per Mausklick die Welt erschlossen wird. Das scheint nicht so ganz
schlüssig (wenn auch aus der Erfahrung naheliegend), denn die
Nobjects wurden ja auch am Computer entworfen und deren Handhabung
nur pantomimisch gezeigt, also unter Umgehung des Tastsinnes.
Spitzer macht hier die Nebenannahme, dass der erwachsene Mensch
bereits über einige Erfahrungen verfügt, indes Kinder sich
die Welt erst aneignen müssen und da habe das Experiment die
Überlegenheit der Pantomime gezeigt. Daraus könnte ja auch
der Schluss gezogen werden, dass die Lerninhalte eben durch
pantomimische Handlung übermittelt werden könnten, um den
Computer effizienter einzusetzen. Vermutlich hat es bei den
erwachsenen Probanden eben nur deshalb funktioniert, weil sie bereits
über ein großes Repertoire an repräsentierten
Handlungen verfügen und so mit der pantomimischen Darstellung
am Computer überhaupt etwas anfangen konnten.
Moralische
Urteile werden im Gehirn sehr schnell einem Vergleich mit dem
persönlichen Wertesystem unterzogen. (S. 131) Die Folge
ist, dass Sätze, die solche moralischen Wertungen aktivieren,
niemals wertneutral zur Kenntnis genommen werden. Da moralische
Haltungen und Einstellungen in der Regel 'mit der Muttermilch'
aufgenommen werden, sind sie notwendig mit den Emotionen eng
verknüpft. Für das Kind hängt von der Übereinstimmung
mit der Moral der Eltern das emotionale Überleben ab, weshalb
nicht nur der präfrontale Kortex, sondern auch Amygdala und
Nucleus accumbens als die schnell und automatisch reagierenden
zentralnervösen Module beteiligt sind. Deren Bedeutung ist aus
Studien zur Angstverarbeitung, zu Vorurteilen und unbewusster
Motivation recht gut bekannt. So findet das Phänomen des Miss-
und Falschverstehens eine neuronale Erklärung und erhält
Sartres Wort von der jedem erwachsenen Menschen zufallenden Aufgabe,
sein sogenanntes Gewissen einer eingehenden Prüfung zu
unterziehen, neues Gewicht. Schnell zeigt sich dann bei
erkenntniskritischer Bemühung, dass die meisten Inhalte von
den Eltern und der umgebenden Kultur tradiert und nie einer
ethischen Prüfung unterzogen wurden. Ethik fragt nämlich
nach der möglichen Begründung solcher moralischen Antworten
auf die Frage nach dem, was wir tun sollen.
In diesem Band
wird eine weitere Studie zum Einfluss von Gewaltspielen oder -videos
auf menschliches Verhalten angeführt (S. 156), die ebenfalls
einen deutlichen Zusammenhang zur Tolerierung von Gewalt herstellt.
Nachweisbar ist ein Abstumpfen gegenüber Gewalt feststellbar;
„gemütlich dumpf“ („Comfortably nump“)
ist die Studie betitelt.
Das viel gelobte
Multitasking erweist sich bei genauerer Untersuchung als
Konzentrationskiller. Zwar wurde nicht untersucht, ob es einen
Zusammenhang zu ADS gibt, scheint mir aber wahrscheinlich. Dass
durch Multitasking eine effektivere Informationsverarbeitung erfolge,
wird als Selbsttäuschung entlarvt. Somit ist Multitasking
nichts,
„wozu man die nächste Generation ermuntern oder was man
fördern sollte. Konzentrieren wir uns lieber ganz auf das
Wesentliche.“ (S.173)
Es sollen nicht
alle Themen hier referiert werden. Wie immer lesen sich die Texte,
die erstmals in der Zeitschrift „Nervenheilkunde“
erschienen sind, sehr gut. Erfreulich ist diesmal, dass der Verlag
ein Buchformat gewählt hat, dass leicht in die Tasche
gesteckt werden kann und mehr Gewicht durch den Inhalt als durch die
Wahl des Papiers aufweist.
Bonn, Juni 2010
Bernd Kuck
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"unserem" Steuersäckel, was theoretisch eine
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