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Spitzer, Manfred: Vom Sinn des Lebens. Wege statt Werke, Schattauer Verlag, Stuttgart 2007, 224 Seiten


Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, war Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, Gastprofessor in den USA . Seit 1997 hat er einen Lehrstuhl für Psychiatrie in Ulm. Als Mitherausgeber der Zeitschrift "Nervenheilkunde" veröffentlicht er selbst regelmäßig Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften, die schon verschiedentlich in Buchform zusammengefasst verlegt wurden (z.B. „Nervensachen“). Auch der vorliegende Band ist eine solche Zusammenstellung, die wiederum den souveränen Stil des Autors bekundet. Er schreibt nicht nur für Fachkollegen, sondern möchte ganz offenbar einen Beitrag zur Allgemeinbildung leisten, weshalb er ja wohl auch eine Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn moderiert.

Wie kurzweilig kann doch Wissenschaft sein! Komplexe Themen werden faßlich dargestellt, ohne dabei je den wissenschaftlichen Boden zu verlieren.
Der Titel des Buches ist allerdings etwas irreführend. Einzig die Einleitung und ein kritischer Aufsatz „Neurotheologie“ versuchen bei der Frage nach dem Sinn, einen zwischen den Wissenschaften vermittelnden Standpunkt einzunehmen. Die Welt lässt sich nicht in Schubladen einteilen ohne von den anderen Schubladen Notiz zu nehmen. Sie offenbart sich als äußerst komplex, so dass es wohl kaum nur einen Sinn geben wird.

Jeder kommt mit ganz bestimmten Eigenschaften auf die Welt und kultiviert diese, wenn es gut geht, im Laufe seines gesamten Lebens. Wenn es klappt, stimmen die Umstände, man trifft die richtigen Menschen, und angeborene sowie vorgefundene Strukturen passen aufeinander. Dann entsteht nicht nur Sinn, son­dern sogar Glück!“ (19)

Dass ist ungefähr die lang bekannte 'Drittelstheorie', wonach ein Drittel Konstitution, ein Drittel soziale/kulturelle Umwelt die Formung des Menschen ausmachen. Das letzte Drittel, „was einer daraus macht“, formuliert Spitzer nicht so pointiert, wie etwa Alfred Adler, denn irgendwie scheint ihm das Schöpferische ein wenig auf schwankendem Boden angesiedelt, weshalb er sich lieber an die „Tatsachen“ halten möchte. Das hindert ihn aber nicht daran, die anderen Phänomene gelten zu lassen, solange sie den Tatsachen nicht widersprechen. So müssen „Natur- und Geisteswissenschaften, Wissenschaft und Politik, Fakten und Werte“ ( 2) in einen gegenseitig befruchtenden Austausch treten. Spitzer fasst sein ethisches Credo in drei Sätzen zusammen, die an Sokrates, Kant und Schopenhauer erinnern:

Der Austausch zwischen den Disziplinen ist gerade bei den Untersuchungen der Neurowissenschaften – und vor allem wegen der sich auf sie berufenden oder aus ihnen abgeleiteten Interpretationen – notwendiger denn je. Trotz der naturwissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse bedürfen diese eben der Interpretation. Und da erst findet die fruchtbare Auseinandersetzung statt. Zunächst sagen sie nämlich nur, dass alle Äußerungen des Menschen, die wir seelisch-geistig nennen, eine körperliche Basis ha­ben. Und sie sagen aus, dass im statistischen Mittel, in dem bekanntlich alle „Ausreißer“ eliminiert werden oder untergehen, der Mensch auch nur Lebewesen dieser Erde ist. Nach wie vor sind die Experimente z.B. zur Willensthematik ziemlich simpel ja fast „geistlos“, sagen im Grunde nichts über werthaltige Willensregungen aus, die den Menschen erst zu bedeutsamen Leistungen befähigen, wenngleich ihm letztlich immer irdische Grenzen gesetzt sind. Selbst in einem Expe­riment zur „Willenskraft“ (i.e. Durchhaltevermögen), in dem es um einen Vortrag über Studiengebühren ging, nivelliert die Statistik die Komplexität des Einzelfalles. Zwar versuchte man die Stim­mung der Pro­banden via Fragebogen zu erfassen. Die charakterliche Grundhaltung und Wert­orientierung blieben unberücksichtigt. Wirkliches Verstehen von Individuen findet eben jenseits der Statistik statt und das wird wohl noch lange so bleiben.

Selbst wenn Spitzer durchaus dafür ist, dem Unbewußten (welches schon aufgrund der Tatsache, dass es in kurzer Zeit vielmehr Informationen verarbeiten kann als das Bewußtsein, wesentlich effektiver die Lebens­fähigkeit des einzelnen garantiert) die Führung wie einem Autopiloten zu überlassen (S. 28ff), sieht er die Notwendigkeit des bewußten Eingreifens und Umlernens gegeben, wenn es Probleme gibt. So wäre auch Freud zu verstehen, der sich ja immerhin mit krankheitswertigen Symptomen befasste. Um hier einzugreifen ist es schon sinnvoll und notwendig, unbewußte Strukturen bewußt zu machen. Der Termi­nus 'krankheitswertig' bringt bereits die Wertorientierung auf den Plan: Es ist durchaus ein „glückli­cher“ Massenmensch vorstellbar, der unbewußt, ja mancher würde sagen: dumpf, dahinlebt. Unter dem Wertgesichtspunkt kann dies je­doch ein fragliches Leben sein.

Eher kurios sind die statistischen Ergebnisse, wonach der Name die Berufswahl und den Wohn­ort unbewußt beeinflussen sollen. So sei z.B. die Wahrscheinlichkeit, dass Jo Rock in Little Rock wohnt, um 38 % erhöht.

Interessant hingegen – und für die Zukunft für Schmerzpatienten hoffnungsvoll – sind die Un­tersuchungen zum Neurofeedback, einer Variante des Biofeedback. In ihnen konnte gezeigt werden, dass der Beeinflussungseffekt der Schmerzen über Neurofeedback deutlich größer ist – nämlich ca. ein Drittel – als beim üblichen Biofeedback. Man macht sich dabei die Möglichkeit der visuellen Darstellung der Magnetresonanz-Signale des Gyrus cinguli zu nutze, die man den Probanden mit wenigen Sekunden Verzögerung (z.B. mit Hilfe einer Videobrille) präsentiert. Nach nur drei Trai­ningssitzungen lernten die Versuchspersonen, die Erlebnisqualität ihrer Schmerzen deutlich abzu­schwächen. Über die Langzeitwirkung weiß man noch recht wenig, darf aber gespannt auf weitere Ergebnisse sein.

Ebenfalls in den Kinderschuhen stecken Untersuchungen zur Verbesserung des Lerneffekts bei psychotherapeutischen Interventionen. So konnte – wenn auch in einer recht kleinen Studie mit 27 Teilnehmern – der positive Effekt einer Verhaltenstherapie bei Höhenangst durch die Gabe von D-Cycloserin (eigentlich wird es als Antibiotikum in der Tuberkulosetherapie eingesetzt) wesentlich gesteigert werden. Vor allem war der angst reduzierende Effekt noch drei Monate nach der Behand­lung stabil, was mit bloßer VT nicht erreicht werden konnte. Interessant ist die Studie, weil sie als Doppelblindstudie durchgeführt wurde. Spannend dabei, das D-Cycloserin sich nicht angst min­dernd vor der Psychotherapie auswirkte, also kein Anxiolytikum ist. Sollten die Befunde sich erhär­ten lassen, könnten Psychotherapien mit pharmakologischer Unterstützung wesentlich verkürzt wer­den. Aber vielleicht ist die Donau schon versiegt, ehe solche Effekte auch bei komplexen Persön­lichkeitsstörungen zu erzielen sind. Und ob eine der nächsten Pisa-Studien schon besser aus­fallen wird, wenn vor der Mathematikstunde D-Cycloserin eingenommen wird, bleibt ebenso abzuwarten. Mir will nur scheinen, dass die Komplexität der Lernfaktoren immer noch weit unterschätzt wird. Die besten Erfolge wurden immerhin bei Ratten erzielt.

Lange schon ist bekannt, dass aggressive Männer einen höheren Testosteronspiegel aufweisen. Inzwischen gibt es aber auch eine Studie, die zeigt, dass die Beschäftigung mit einer Waffe den Te­stosteronspiegel ansteigen lässt (zumindest bei Männern, Frauen wurden nicht untersucht). Und eine Untersuchung befasst sich mit der Auswirkung beobachteter positiver Handlungen, die Gefühle der Dankbarkeit oder Erhabenheit bewirken. Stillende Mütter (an dieser Studie waren keine Männer beteiligt), die Videos solchen Inhaltes anschauten, zeigten entweder Milchfluss oder stillten die Säuglinge nach dem Video (fast die Hälfte der Mütter!). Solches taten nur wenige der Mütter, denen Videos mit Komödianten und deren Späßchen gezeigt wurden. Solcher Art Untersuchungen bräuch­ten wir noch mehrere, zeigen sie doch, dass wir nicht nur Spielball der Hormone sind, sondern dass werthaltige soziale Bezüge ebenso wie wertwidrige Einfluss auf unsere Hormonausschüttung nehmen.

Ästhetik im Tanz ist nicht nur schön anzusehen, sondern erhöht auch die Attraktivität des Tän­zers. Die reproduktive Fitness hat bereits Darwin in der Ausdrucksmöglichkeit des Tanzes gesehen. Wichtig dabei ist, dass die Symmetrie der körperlichen Erscheinung einen Hinweis auf die Gesund­heit des Tänzers gibt, da paarige Organe meist nicht gleichermaßen von Krankheitserregern befallen werden. Dies lässt sich in einem experimentellen Konstrukt nachweisen. Ob die evolutionsbiologi­schen Schlussfolgerungen dann letztlich doch nur für die weniger gesprächsfähigen Schuhplattler in höheren Alpenregionen zutreffen, bleibt der wertphilosophischen Position des Betrachters überlas­sen.

Spannend sind die Ergebnisse hinsichtlich der Darbietung von Entscheidungskriterien. Muss der Mensch etwa zwischen einer Operation oder Bestrahlung wählen, so ist es von Wichtigkeit, ob dem Probanden die Erfolgsquote als mit 68% Überlebensrate oder 32% Todesrate offeriert wird. In der ersten Darstellungsart entscheiden sich die meisten für die Operation. In einem anderen Ex­periment, in dem es um Geldgewinn oder -verlust ging, zeigte die Analyse der fMRT-Daten (funktionelle Magnetresonanztomographie) eine Aktivität der Amygdala, wenn die Probanden sich für einen sicheren Gewinn bzw. für die Wette bei drohendem Verlust entschieden. Ohne Aktivität blieb die Amygdala, wenn sich die Probanden für eine Gewinn-Wette oder einen sicheren Verlust entschieden. Die Daten werden dahingehend inter­pretiert, dass die Amygdalaaktivität ein emotionales Signal existenzieller Qualität repräsentiert, das die Probanden den si­cheren Gewinn akzeptieren lässt, bei drohendem Verlust ihre Chancen durch wetten zu verbessern suchen.
Dies macht die Abhängigkeit unserer Entscheidung von dem Formulierungsrahmen (Gewinn oder Verlust), dem „Framing-Effekt“, verständlich. Bei einzelnen Probanden trifft es jedoch nicht so ohne weiteres zu. Je aktiver nämlich der mediale orbitofrontale Kortex war (hier wird die Rationalität an­gesiedelt), je rationaler also ein Mensch sich generell verhält, desto weniger unterlag er dem Fra­ming-Effekt, hatte er folglich seine Emotionen besser im Griff. Der Vorschlag Spitzers, Politiker vor ihrer Wahl auf die Aktivität ihres orbitalen Kortex zu scannen, hat etwas für sich. Ein Test auf ihr humanistisches Potential und ihre emotionale Intelligenz sollte dabei nicht vergessen werden.

Wieso nehmen eigentlich so viele Menschen an Glücksspielen teil, speziell am Lotto? Was Do­stojewskij zu diesem Thema zu sagen hatte („Der Spieler“), würde Spitzer sicher nicht ignorieren. Aber wieso spielen Menschen z.B. einen Dauerlottoschein, den sie ausfüllen, abgeben und dann zu hause sitzen, also etwa den Kick mit anderen am Roulettetisch zu sitzen, gar nicht haben? Nun, sie sitzen halt vor dem Fernseher und spannen auf die Ziehung am Samstag. Und neurobiologisch? Man hat herausgefunden, dass Dopamin-Neuronen nicht nur auf Belohnung reagieren, sondern dass es während des Zeitraumes zwischen Reiz und Belohnung eine Zunahme ihrer Aktivität gibt. Diese Reaktion war am größten, wenn die Wahrscheinlichkeit 0,5 betrug, also bei größter Unsicherheit ob des Erfolges. Nun ist Dopamin allgemein an Aufmerksamkeitsprozessen beteiligt. Ist die Aufmerk­samkeit unspezifisch, wird am besten gelernt. Dies wird nun wiederum mit einer Neugierhaltung as­soziiert. Und damit sind wir wieder bei dem evolutionsbiologischen Vorteil des ganzen Geschehens. Wer nämlich neugierig ist, der hat die größten Chancen, etwas Neues zu lernen, was ihm einen Vor­teil bei der Überlebensfähigkeit verschafft. Und das Lotto? Eigentlich weiß jeder, dass letztlich im­mer drauf gezahlt wird, denn sonst könnten Lotterien pleite gehen, was noch nie vorgekommen ist. Die Leute spielen also Lotto, so die Hypothese, weil sie damit Unsicherheit einkaufen und so zu ei­ner lustvollen Dopaminausschüttung kommen. Normalerweise – sieht man vom süchtigen Spieler ab – kommt man so nicht in existenzielle Notlagen, sondern hat ein vollkommen kalkulierbares Ri­siko. Der Mandelkern kann demnach ganz ruhig bleiben, der Dauerlottoscheinkäufer erlebt also keine Angst, anders als der Extremkletterer. Für Sparsame hat Spitzer einen Tipp bereit:

„...dass Neugierde billiger ist, die gleiche Auswirkung auf das Dopaminsystem hat (macht Spaß) und drittens auch noch zum Lernen führt. Wenn das kein Grund ist, neugierig zu sein.“ (147f)

Bei den Schweinsaffen führt die Anwesenheit von starken Männchen zu weniger gefährlichen Konflikten in der Affengesellschaft und zu mehr sozialem Verhalten. Männer in der menschlichen Gesellschaft empfinden weniger Mitgefühl als Frauen mit einem anderen Menschen, wenn dieser vorher als unfairer Zeitgenosse erlebt wurde. Dies wurde anhand der Aktivität des fronto-insularen Kortex bei Männern und Frauen dargestellt. Fairness wäre damit als wesentlicher Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung größerer sozialer Verbände identifiziert. Dass die Präsenz von Polizisten „indirekt“ bewirkt, „dass wir Freunde und Helfer“ (169) haben, hat ja was. Aber ist die ganze Untersuchung nicht lediglich ein Beleg dafür, dass wir es gegenüber den Affen noch nicht so arg weit gebracht haben? Und immer wieder stellt sich die Frage nach Henne oder Ei. Gibt es nun entsprechende Hirnaktivitäten, weil der männliche Mensch in unserer Kultur eben Rachegefühle hat oder hat er Rachegefühle aufgrund der Aktivität entsprechender Hirnareale?

Überraschend ist das Untersuchungsergebnis, wonach die erlebte Schmerzerfahrung, z.B. einer Darmuntersuchung, im Nachhinein nicht von der Dauer des Schmerzerlebens, sondern von dem Mittel­wert aus stärkstem Schmerz und Schmerzen am Ende der Prozedur („peak-end-rule“) beurteilt wird. Dies gilt im Übrigen auch für positive Erlebnisse, wodurch die Regel der Großmütter, aufzuhören, wenn es am schönsten ist, eine experimentelle Verifikation erfuhr. Dies gilt auch für die Einschät­zung des gesamten Lebens – zumindest von normal neurotischen Studenten. Die beurteilten näm­lich die Zufriedenheit mit ihrem Leben signifikant besser, wenn sie vor der Befragung in einem öf­fentlichen Telefon ein zehn Cent Stück fanden.

Dass Hilfsbereitschaft und Kooperation wesentliche Merkmale nicht nur menschlicher Gemein­schaften sind, konnte bereits Kropotkin zeigen („Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung“). Dass es sich für den Menschen nicht nur um eine kulturelle Leistung handelt, wurde nun vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig auch für Affen gezeigt. Vor allem aber, dass sie, wie der Mensch, Kooperationspartner wählen, bevorzugt jemanden, der auch wirklich etwas kann, um das Ziel zu erreichen. Also nicht einfach nur sozial, sondern „clever-sozial“. (176)
Das Affenexperiment, bei dem die Tiere zunächst lernten, eine Tür zu öffnen, bestand darin, ein Ta­blett mit leckerem Futter heranzuziehen. Allerdings verlief das Seil so durch zwei Ösen des futtertragenden Brettes, dass dessen Enden zu weit auseinander lagen, als das ein Affe allein das Brett hätte zu sich ziehen können. Zog er folglich an einem Seilende, hatte er zwar ein Seil, das Futter war aber keinen Millimeter näher gerückt. Wenn er nun die Tür zum Nachbarkäfig öffnen würde, könnte der Nachbar zu ihm kom­men und damit sie gemeinsam an die Leckereien, indem sie kooperativ jeder an einem Seilende zogen. Das geschah auch in 73,4 % der Fälle. Wurde das Arrangement nun dahingehend verändert, dass der Affe auch allein an die Leckereien kam (die Sei­lenden lagen dicht genug beieinander), baten immerhin 30,4% den Nachbarn hinzu um gemeinsam zu futterten. Hier beginnt die wirklich kulturelle Leistung, durch ethische Überlegungen den Prozentsatz zu erhöhen, was bislang dem Menschen vorbehalten bleibt – als Potenzialität!
Bei der Frage, ob auch Affen „genetisch“ zu Hilfsbereitschaft neigen, wird es dann unscharf. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass Kleinkinder einem Erwachsenen durchaus behilflich sind, wenn er mimisch seine Hilfsbedürftigkeit kenntlich macht. Affen würden dies auch tun – aller­dings: die Affen, die am Experiment teilnahmen, lebten unter Menschen und waren von diesen er­zogen worden.

Spitzer war auch auf einem Psychiaterkongress in Swasiland. Er berichtet u.a. von den desolaten Zuständen in diesem Land, der gewaltigen Kluft zwischen reicher Klasse und Armen. Swasiland ist das einzige Königreich auf dem afrikanischen Kontinent und zugleich das kleinste Land. Die unge­heure Aids-Rate hindert den König nicht an einem größenwahnsinnigen Lebenswandel. Die durch­schnittliche Lebenserwartung liegt bei 36,5 Jahren.

Man kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass weltweit etwa 84% der Menschen religiös sind. Ob nun aktiv oder passiv sei dahingestellt.

Nach einer im Time-Magazin veröffentlichten Gallup-Umfrage glauben 96% der US-Amerikaner an Gott, 90% an den Himmel, 79% an Wunder, 73% an die Hölle, 72% an Engel und 65% an die Realität des Teufels.“ (208)

Die Frauen ein bisschen mehr als die Männer. Die Bildung spielte nicht eine so große Rolle. An den Himmel glauben immer noch 75% der Uni-Absolventen, 80% der College-Absolventen und 90% derer, die irgendwann mal ein College besucht haben. 94% glauben an den Himmel und haben keine College-Ausbildung. Immerhin!
Immer noch 40% der amerikanischen Wissenschaftler glauben an Gott und der bekannteste Genetiker, Francis Collins, hat gerade ein Buch – The Language of God – veröffentlicht, in dem er die Kluft zwischen Wissenschaft und Religion überbrücken will.
In Deutschland glauben immer noch 32% an Engel, wenn auch von den 53 Millionen Christen nur ein paar Prozent sonntags in die Kirche gehen.
Da nach einer Definition meiner Religionslehrerin Glaube dort anfängt, wo der Verstand auf­hört, wundert es nicht, dass die meisten Katholiken nicht wissen, dass sie via Dogma an die leib­haftige Auferstehung Jesu und die leibhaftige Himmelfahrt der Mutter Gottes, Maria, glauben, dies allerdings erst, seit sich der Papst 1950 dazu entschieden hat.
Welche Türkinnen wissen schon, dass im Koran von einem Kopftuch nichts steht und selbiges erst seit den 70-iger Jahren zu einem religiösen Statussymbol mutierte. Im Übrigen tragen in Ulm mehr türkische Frauen das Kopftuch als in Izmir, der zweitgrößten Stadt der Türkei.

Seit langem ist bekannt, dass Patienten mit Anfallsleiden zu starken religiösen Erlebnissen nei­gen (Temporallappenepilepsien). Manche schlossen daraus, dass der Sitz religiöser Erlebnisse der Temporallappen sei. Da Hildegard von Bingen vermutlich nicht so sehr vom Heiligen Geist, son­dern von ihren Migräneanfällen inspiriert war und Saulus vermutlich aufgrund einer dissoziativen Störung zu einem Paulus wurde, scheint die religiöse Basis nicht allein auf einen Teil des Gehirns beschränkt.
Dass während der Meditation bei einigen das Raumgefühl abhanden kommt, hängt zunächst einmal damit zusammen, dass im Scanner (fMRT) nachge­wiesen werden konnte, dass die Aktivität des Parietalhirns abnahm, welches für die räumliche Ori­entierung des Organismus zuständig ist.

Wer sich also beim Meditieren „im Nichts“ fühlt, der fühlt schlicht die Abschaltung seines Zentrums für die eigene Verortung.“ (210)

Wird mit Inbrunst Psalm 23 im Scanner gebetet, so zeigt sich zum Leitwesen der Gläubigen, dass die emotionalen Areale weniger beteiligt sind als die kognitiven. Denkt der Mensch jedoch im Scanner über moralische Themen nach, die ihn selbst betreffen, so werden die Bereiche des Gehirns aktiviert, die auch durch affektive Prozesse aktiviert werden. Daraus folgt, dass die emotionale Beteiligung bei Wertentscheidungen größer ist, als manch einem lieb sein könnte. Dies ließe sich demnach als eine Bestätigung der Thesen von Max Scheler lesen, wonach Gefühl Werterkenntnis sei.
Für die Existenz Gottes folgt daraus erst einmal gar nichts. Es wird heute kaum mehr be­hauptet (wie seinerzeit vom radikalen Solipsismus oder heute vom radikalen Konstruktivismus), dass es den blauen Himmel nur in unseren Köpfen gibt, der über das Sehzentrum zu Aktivitäten im Gehirn führt, und uns einen Himmel konstruiert.

Man darf also auch in der Gehirnforschung das Erklären nicht mit dem Hinwegerklären verwechseln. Wenn man weiß, welches Areal beim Betrachten oder beim Riechen einer Rose, beim Hören von Musik oder beim Küssen aktiv ist, folgt daraus, dass es keine Rosen, keine Musik oder keinen Kuss gibt? - Gewiss nicht! Es folgt nur, dass es keine Erfahrung gibt, die nicht in unserem Gehirn stattfindet und entsprechend mit be­stimmten Vorgängen im Gehirn einhergeht.“ (211)

In der Weise, wie das Sehsystem im Gehirn lokalisiert ist, das uns mit Empfindungen von Farben und For­men (also auch mit der Wahrnehmung des blauen Himmels) versorgt, ist jedes Erleben, Empfinden, Wahr­nehmen und Denken irgendwo im Gehirn lokalisiert. Damit ist Religiosität ebenso „im Gehirn“ wie Musikali­tät, Sprachlichkeit, Witz, Tapferkeit, Extraversion, Intelligenz oder was es noch an höheren geistigen Leis­tungen und Dimensionen zu deren Beschreibung geben mag.“ (212)

Ob nun aber die Religion durch die Neurowissenschaft neu belebt werden sollte, statt der esote­rischen- oder Pop-Gläubigkeit, sei einmal dahingestellt. Da wäre mir schon die Etablierung eines philo­sophischen Weltbildes, dass die Rückbezüglichkeit, die Bindung des Menschen an Mensch und Welt fundierte, lieber. Aber immer noch besser, als die Wissenschaftsfeindlichkeit, wie sie sich in der Debatte um die Evolutionstheorie in Amerika gebärdet.

Bonn, April 2007
Bernd Kuck

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