Schmid, Gary Bruno: Tod durch Vorstellungskraft. Das Geheimnis psychogener Todesfälle. 277 S., Springer Verlag, Wien New York 2000.
Schmid geht mit seinem Material insgesamt ziemlich unkritisch um. Nehmen
wir die alte plattdeutsche Volksballade "Es waren zwei Königskinder".
Es mag noch unerheblich sein, dass die Ballade aus der Zeit nach 1600 stammt
(nicht 1500) und es nicht eine "Nonne" war, die die Orientierungslichter
für den Jüngling ausblies, sondern eine "Norne", d.h. eine der
drei Schicksalsgöttinnen der nordischen Mythologie. In der Fassung,
die Schmid präsentiert, bricht der Prinzessin, als sie den ertrunkenen
Jüngling im Arm hält, das Herz, "sank in den Tod zur Stund".
Im "Deutschsprachigen Liederverzeichnis"
des Männer-Gesang-Verein Harmonia 1967 aus Kenosha (Wisconsin, USA)
endet die Ballade anders: Die Königstochter macht Selbstmord, indem
sie ins Wasser geht: "Se sprüng met in de Wellen,/ O Vader un Moder,
ade!" Sie stirb nicht psychogen an gebrochenem Herzen, sondern ertrinkt.
Auch die letzten Worte Penthesileas, die in Kleists Tragödie um ihren
ermordeten Liebhaber Achilles trauert, deuten eher auf Selbstmord als auf
"Tod durch Autosuggestion" hin.
Schmid betont mehrfach, "eine kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dem Phänomen" beweise die Existenz des psychogenen Todes "eindeutig"
(S.17), aber es fällt doch auf, dass seine Beispiele meist deutlich
mehr als 50 Jahre zurückliegen. Er zieht, wie er selbst schreibt (ebd.)
die ältere medizinische Literatur heran, um die Ursprünge der
Beschäftigung mit dem Phänomen aufzudecken. Wir halten fest,
dass es Schmid um die geschichtliche Tradition dieses Gegenstandes geht
- die letzten größeren Arbeiten dazu seien 1970 und 1973 erschienen
-, nicht um den gegenwärtigen medizinischen Forschungsstand. Könnte
der tiefere Grund dafür in dem Umstand liegen, dass die moderne Medizin
mit ihren verbesserten Untersuchungsmethoden das Vorliegen eines psychogenen
Todes immer sicherer ausschließen kann? Morphologische Veränderungen
sind auch bei Gesunden nachweisbar, wenngleich es noch schwierig ist, ihre
Bedeutung auf der Skala zwischen Gesundheit und Krankheit einzuschätzen.
Aber heute ist ein "stinkender, dünnflüssiger Durchfall ohne
bakteriologischen Befund" im Gegensatz zu 1934 nicht mehr wahrscheinlich
(S. 90). Die Chancen, einen echten psychogenen Tod aufzufinden, schwinden
mit den neuen Untersuchungsmöglichkeiten.
Aber nicht nur, dass der Autor etwas sorglos mit seinem Stoff umgeht.
Bedenklich ist vielmehr, dass er völlig unkritisch an die Überlieferung
herangeht. Die Beispiele und Belege sind meist von zweifelhafter Quelle:
"Ein junges Individuum im zweiten oder dritten Lebensjahrzehnt wird plötzlich
unruhig...", "Vor Jahren wurde in Indien in einer medizinischen Zeitschrift
ein Artikel publiziert, ...", "Es wurde von Autoritäten berichtet..."
- in diesem Tenor geht es über Seiten hinweg. Oftmals handelt es sich
um die Nacherzählung der Nacherzählung. Shulack berichtete über
einen psychogenen Todesfall 1938, Wendkos übernimmt ihn 1979 und Schmid
zitiert ihn 2000. Basedow beschrieb 1925 den Fall einer tödlichen
Verwünschung bei australischen Ureinwohnern, was Ellenberger 1952
übernahm, woraus Schmid 2000 zitiert. Oder jemand hat von einem verlässlichen
Zeugen eine Geschichte von einem Mann in einem abgelegenen Dorf gehört,
der ... usw.
Fast nie wird angegeben, wie die Berichte zustande kamen, ob und wie
sie überprüft wurden, und wenn ja, von wem, und ob es mehrere
voneinander unabhängige Beobachter gab. Aus Sicht eines skeptischen
Zeitgenossen sind alle Beispiele nicht mehr als harmlose Anekdoten, zu
deren Gunsten Schmid kaum mehr vorbringen kann, als dass ihre Überlieferer
als "seriös" gelten. Dem Psychologen Schmid ist die Möglichkeit
von Sinnes- und Selbsttäuschungen auf Grund ehrenwerter wie schamloser
Motive gänzlich fremd. Nirgends wird in Erwägung gezogen, dass
die Sinne dem Beobachter eventuell einen Streich spielten, dass er vielleicht
gefoppt wurde, dass jemand sich wichtig machen wollte. Warum sollten Berichten
abergläubischer Eingeborener übermäßig viel Glauben
geschenkt werden? Selten wurde eine Autopsie vorgenommen, jedenfalls ist
wenig davon die Rede, es sei denn in oberflächlichen Zeitungsberichten.
Schmid wurde offenbar Opfer seiner eigenen Autosuggestion. "Welchen
Einfluß kann die eigene Vorstellungskraft auf den Augenblick des
Todes haben?" fragt er einleitend (S.2). Die Frage setzt bereits voraus,
was erst bewiesen werden muss, dass nämlich die Vorstellungskraft
einen Einfluß auf den Augenblick des Todes hat. Und was heißt
"Einfluß"? Der Begriff ist unbestimmt. Ist gemeint ein determinierender
Faktor, der alle anderen Einflüsse überragt, handelt es sich
um einen auslösenden Einfluß für eine schon angelegte
Bereitschaft zu Sterben aufgrund von (bislang nicht erkannter) Krankheit
oder handelt es sich um einen Einfluß im Sinne eines Kofaktors? Und
wie viel Zeit darf zwischen Tabubruch, Verwünschung oder Stress und
Tod maximal vergehen, damit noch ein Zusammenhang angenommen werden kann?
Die Frage stellt sich angesichts des von Schmid genannten Beispiels aus
der Bibel für einen "Tabu-Tod"; gemeint ist die Vertreibung aus dem
Paradies nach dem Essen des Apfels vom verbotenen Baum. Bekanntlich starben
Adam und Eva nicht, vielmehr wurden sie sterblich. Der Autor hat
nicht immer eine glückliche Hand bei der Interpretation seines Materials.
Schmid verliert sich bei der Betrachtung des Todeszeitpunkts in Zahlenmagie
(48f), wenn es darum geht, dem Todesdatum eine Aura des Besonderen zu verleihen.
Auf seltsame Weise starb jemand genau "am 34. Jahrestag seines Sieges"
oder an einem 22., nachdem er vor Jahrzehnten an einem 22. gekrönt
worden war. Aufklärung über diese scheinbare Übereinstimmung
ist leicht zu geben. Ein Monat hat nur 31 Tage. Im Laufe eines - sagen
wir - 70-jährigen Lebens ziehen 840 Monate mit einem 22. vorbei und
es ist unausbleiblich, dass ein paar wichtige Ereignisse auf einen 22.
fallen. Menschen, die geistig nicht ganz so gut belüftet sind, machen
daraus einen mächtigen Wirbel. Mit dieser primitiven Logik können
auch die tollsten Zusammenhänge von fernliegenden Ereignissen und
Menschen konstruiert werden. Unter den Milliarden von Menschen finden sich
mit Sicherheit eine Handvoll, die am gleichen Monatstag das gleiche erlebten
oder - starben. Das ist mathematisch einfach unvermeidlich. Vor dem Phänomen
der Gleichzeitigkeit disparater Ereignisse kann Schmid nur staunend stehen
bleiben. Manchmal liegen Schock und Tod zeitlich nah beisammen, manchmal
nicht. Der Autor müßte den Beweis antreten, dass der Zeitzusammenhang
mehr als zufällig ist, was bedingt, auch die widerlegenden Gegenbeispiele
zu untersuchen. Vielleicht wäre dieser oder jener in diesem oder jenem
Fall auch ohne psychischen Streß gestorben oder der Streß war
nur noch das Tüpfelchen auf dem i und nicht "determinierend"?
Der Zustand erwartungsvoller Aufmerksamkeit und die ernsthafte Erwartung
befördert den Glauben ungemein, man sei verhext und müsse sterben.
Es ist das altbekannte Phänomen der "Suggestibilität", auf das
schon Sigmund Freud bei seinen Hysterikerinnen hereinfiel; manche Menschen
sind für Suggestionen empfänglicher als andere. Und tatsächlich
kann der tödliche Bann der Verwünschung gebrochen werden durch
ärztliche Kunst oder einem energischen Widerreden von dritter Seite
oder durch schlichtes Nichtglauben. Auf der anderen Seite ist klar, dass
übermäßiger Stress, Schock und Angst das Vegetativum und
das Blutkreislaufsystem belasten, manchmal so stark, dass einzelne Gesunde
ums Leben kommen. Das alles ist nicht so ungewöhnlich, wie es Schmid
hinstellt.
Doch der Autor hat sich vorgenommen, auf der Schiene des Ungewöhnlichen,
Unerklärlichen und Außergewöhnlichen weiter zu rollen.
So landet er gegen Ende des Buches beim Versuch, einer Macht habhaft zu
werden, die aus einer metaphysischen Dimension heraus im todesbereiten
Menschen zusätzlich zu dessen geistiger Verwirrung von außen
tödlich auf ihn einwirkt (188ff). Diese Macht nennt Schmid unter Hinweis
auf eine physikalische Theorie die "Quanten-Teleportation". Sie ist kein
Signal im Sinne eines Energieautauschs, sondern ein "Ferndenken in lebenden
Systemen" (FDILS). Schmid räumt selbst ein, dass er sich auf "exotisches
Gedankenterrain" begibt, wenn er Experimente von Quantenphysikern heranzieht,
um ein psychisches Problem zu erläutern. In der Physik gelang es,
"den Quantenzustand [eines Teilchens] augenblicklich über eine beliebige
Entfernung ohne den Transport irgendwelcher Energie oder irgendeines informationstragenden
Signals zu übermitteln. Auf diese Art und Weise werden vermutlich
auch Gedanken zwischen entfernten Geist-Gehirnen 'teleportiert'." (206)
Die Erklärungen, die der Autor für diese ungewöhnliche Ansicht
liefert, bleiben unverständlich. So sehr er sich um Klarheit bemüht,
hier versagt seine Sprachkunst. Ich bin kein Physiker und kann diese Theorie
nicht beurteilen, muss jedoch feststellen, dass ein "Ferndenken in lebenden
Systemen" in dem bewährten und sehr detaillierten Fachbuch "Das Gehirn"
(Richard F. Thompson, Spektrum Akademischer Verlag, 2. erweiterte Auflage
1994) nicht auftaucht. Offenbar handelt es sich bei FDILS um eine noch
sehr spekulative Theorie.
Als Psychologe muss ich Schmid entgegenhalten, dass das lokale Gehirn
genügt, um sich in Todesangst, Hoffnungslosigkeit und Todesahnung
zu versetzen. Man denkt, was der andere denkt und will (beim Voodoo-Tod
durch Verwünschen beispielsweise). Da braucht es kein fragwürdiges
Phänomen wie die Teleportation, um zu erklären, wie die Erfahrung,
"auf der gleichen Wellenlänge zu sein", zustande kommt. Doch Schmid
ist jetzt nicht mehr zu halten. Die Teleportation ist ihm Beweis, dass
einzelne Menschen in die Zukunft schauen und den Tod voraussagen können.
(Warum nur den Tod? Warum nicht auch Aktienkurse?) "Die nichtlokale Antizipation
oder Vorhersage von Ereignissen impliziert eine sofortige Korrelation des
individuellen menschlichen Bewußtseins zwischen dem eigenen Geist-Gehirn
und (1) einem oder mehreren Geist-Gehirnen, und (2) Umwelt-Ereignissen,
falls Quantenwellenreduktionen auf eine nichtlokale Art und Weise in Raum
und Zeit zwischen den gegebenen Systemen korreliert sind." (215f) Ich will
verdammt sein, wenn das irgend etwas zu bedeuten hat.
Schmids Materialsammlung ist beeindruckend, aber spätestens
bei der Teleportation ist klar: das ist keine Wissenschaft, das ist Esoterik.
Wissenschaft ist mehr als bloßes Sammeln und Nachplappern. Karl Popper
spricht im Zusammenhang mit Psychoanalyse, Individualpsychologie und dem
psychologischen System Jungs von "Pseudowissenschaft". Ihre Lehrgebäude
bestünden aus Sätzen, die weder beweisbar noch widerlegbar sind.
Schmid kommt aus der Jungschen Schule. Dazu muss man wissen, dass Jung
ein Meister des Mystizismus früherer Epochen war, ein Spintisierer,
der es sich erlaubte, mitten im 20. Jahrhundert in einer Welt der Geister
zu leben. Dieser Tradition fühlt sich Schmid offenbar verpflichtet.
Um Wissenschaft zu sein, käme es darauf an, das bloße Sammeln
und Ordnen zu überwinden, und das bedeutet: zu überprüfen.
Der junge Mann, der im Bericht eines Kongoreisenden nach dem verbotenen
Genuß eines Huhn starb, hatte er vielleicht eine Salmonellenvergiftung?
Der Metzgerlehrling, der über Nacht in die Kühlkammer eingeschlossen
und am nächsten Morgen tot aufgefunden wurde, war er vielleicht erstickt?
Jedes einzelne Beispiel wäre auf ihre Plausibilität hin zu befragen.
Ich bin ziemlich sicher, es bliebe kaum etwas übrig von den Schauergeschichten
über psychogene Tode, womit ihre Existenz noch nicht widerlegt wäre.
Nur aus dieser erst noch zu leistenden Arbeit kann Erkenntnis entstehen.
Ein ernsthaftes Problem sehe ich darin, dass einer der größten
und renommiertesten internationalen Wissenschaftsverlage, der Springer-Verlag,
ein solches Werk in sein Programm aufnahm. Nun gut, mag man einwenden,
es ist nur der österreichische Ableger dieses Verlages, doch es bleibt
dabei: die Grenze zur Pseudowissenschaft wurde überschritten. Es bleibt
ein Rätsel, warum sich der Verlag das antat.
Gerald Mackenthun
Berlin, Mai 2000
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