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Ruppert, Franz: Frühes Trauma. Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensjahre. Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 312 Seiten.


Franz Ruppert, der anscheinend in die Fußstapfen von Bert Hellinger getreten ist, legt hier einen Sammelband vor, in dem er selbst eine Einleitung und teilweise kommentierend und ergänzend schreibt. Wie in früheren Texten befasst sich auch dieser Band mit dem "Aufstellen des Anliegens", eine von ihm kreierte Variante der Aufstellung, die Bert Hellinger so populär und fragwürdig gemacht hat. Hier nun befassen sich die AutorInnen mit Aspekten der Pränatalen Psychologie, d.h. mit den frühen Traumen, die bereits in vorgeburtlicher Zeit gesetzt werden, sowie mit transgenerationellen Traumata.

Wie funktioniert nun überhaupt die Aufstellung? Manche sind geneigt, hier von einer Art Spöckes zu sprechen, die Intuition eher in das Reich der Esoteriker zu verbannen. Immerhin ist es beeindruckend und rätselhaft, dass sich in Familienaufstellungen Konstellationen zeigen, die sehr viel erhellen können, ehe man noch wirklich viel über den aufstellenden Klienten weiß. Hier ist noch wenig induziert, was nicht schon im Klienten - vermutlich im impliziten Gedächtnis - vorhanden ist. Wir sind es nicht mehr gewohnt, uns in vorsprachlichen Bereichen zu bewegen, da unsere Wahrnehmung von Sprache und der Hochschätzung - oft eben Überschätzung - unseres Bewusstsein behindert wird. Bleiben wir nur einmal bei den von der Psychoanalyse beschriebenen Phänomenen der Übertragung und Gegenübertragung, die ja wohl kaum im Geruch der Esoterik stehen, dann lässt sich sehr wohl etwas mit "Resonanz" im Geistig-Seelischen anfangen. Ebenso unter Rückgriff auf die neueren Ergebnisse der Hirnforschung, die immer deutlicher machen, dass wir unleugbar aus der Evolution hervorgegangen sind, dann eröffnet sich auch den letzten Überschätzern des Bewusstseins die bislang gering geschätzte Ebene des Tierischen. Der Mensch als soziales Gruppenwesen dürfte über ähnliche Austauschmöglichkeiten verfügen, wie sie Herden- und Gruppenwesen eigen sind. Spüren und Empfinden sind die vorsprachlichen Austauschmöglichkeiten, subtile Gesten sind bestimmender als Gedankenkonstrukte. Und die enorme Vigilanz von komplex traumatierten Menschen geben uns "Normalen" einen Eindruck von der Subtilität der Wahrnehmungsmöglichkeiten. Und da Säuglinge und Kleinkinder nicht über Sprache verfügen, lässt sich an ihren Interaktionsfähigkeiten wahrnehmen, wie wahrscheinlich Nervensysteme miteinander interagieren - alles im Vorsprachlichen. Und wie schon aus Hypnoseexperimenten bekannt ist, findet der Mensch oft im Nachhinein mehr oder weniger gute Erklärungen für seine Handlungen; Hochauf (Frühes Trauma und Strukturdefizit, Asanger Verlag 2007) z.B. spricht von "Nachsymbolisierungen", die früh traumatisierte Menschen vornehmen, um ihnen Unerklärliches und Unerträgliches in eher harmlose Erinnerungen einzubetten. Auch die Psychoanalyse kennt das Phänomen der "Deckerinnerung", die dem gleichen Zweck dient, wenn auch auf einer eher vorbewussten Ebene bzw. wo bewusste Erinnerungen ehemals bewusste Erfahrungen ins Reich des Unbewussten zurück verweisen.

Psychotherapeuten können ein Lied davon singen, was sich alles vorsprachlich mitteilt, nicht immer in Sprache zu fassen ist. Das meiste davon ist Erfahrungswissen, dass sich in seiner Komplexität schwer fassen und schwer gedanklich-sprachlich vermitteln lässt. Daher haben sich ja andere Richtungen Rettung suchend den Naturwissenschaften zugewandt, in der Hoffnung, eine Methode auf Lebendiges anzuwenden, die an den Dingen sich bewährt hatte - soweit sie den makroskopischen Bereich betreffen. Im Geistig-Seelischen ist uns die Quantenphysik allerdings ungleich näher und die Heisenbergsche Unschärferelation ist für das Zwischenmenschliche bedeutsamer als das bloß zu beobachtende Verhalten. Diese Unschärfe bedeutet eben auch, dass objektive Beobachtung von Interaktionen nicht möglich ist, da der Beobachter bereits Teil des Systems wird und sei es nur, dass die Interagierenden von der Beobachtung wissen. Und selbst wenn sie es nicht wissen, wissen wir, dass sich Menschen nicht einfach nur verhalten, sondern z.B. versuchen, postulierten Erwartungen zu entsprechen oder den Erwartungen verinnerlicherter Anderer, z.B. den Eltern.

Diese Komplexität macht das Verstehen des anderen nicht leichter. Und um in der Therapie nicht Projektionen oder Wunschvorstellungen zu erliegen, versuchen wir ja durch möglichst umfangreiche und lebenslange Selbsterfahrung die persönliche Gleichung gut kennen zu lernen. Damit wächst zumindest die Wahrscheinlichkeit, mehr vom Interaktionsstil, den inneren Konflikten und Projektionen des Analysanden zu erfassen. Und selbst dann gestaltet sich im therapeutischen Prozess immer ein interaktionelles Geschehen, wird sich mit dem einen Therapeuten etwas herstellen, was mit einem anderen nicht möglich ist. Darin dürfte das Geheimnis des gemeinsamenen therapeutischen Werkes (Heisterkamp) liegen.

Im Gegensatz zu seinem frühen Text ("Verwirrte Seelen", siehe die lesenswerte und kritische Besprechung von Weber) hat er sich wohl weiter entfernt von der bloßen Versöhnungslehre Hellingers. So betrachtet er die Idealisierung der Eltern, die zu Tätern wurden, als Falle der Täter-Opfer-Dynamik (S.65). Gleichwohl veranstaltet er weiterhin Aufstellungen in größerem Stil, gerne mit 50 und mehr TeilnehmerInnen. Zu seinem schon früher vertretenen Schema mit den vier Kategorien der Traumatisierung (Existenztrauma, Verlusttrauma, Symbiosetrauma und Bindungstrauma), fügt er nunmehr die Kategorie der Traumatisierung durch Lieblosigkeit und Gewalt hinzu.

Besondere Fallstricke, ergeben sich aus dem oben Gesagten in der Aufstellung des Anliegens, sowohl im Einzel- wie im Gruppensetting.
Nach den Erfahrungen von Ruppert kann es zu Unklarheiten kommen,

Nach dieser Einführung von Ruppert folgen Beiträge zu den unterschiedlichsten Themen, die mittels des "Aufstellen des Anliegens" im therapeutischen Prozess erhellt werden können. Merkwürdig berührt, dass es sich ausschließlich um Autorinnen handelt und das Ruppert nicht als Herausgeber des Bandes firmiert, sondern als Autor, indes er doch lediglich den einführenden Aufsatz verfasst hat und zwei Kommentare. Und die Autorinnen, die überwiegend der freien Psycho-Szene angehören bzw. Heilpraktikerinnen sind, haben alle bei Ruppert gelernt. Da mag jede(r) für sich den Bedeutungsgehalt erspüren. Inhaltlich möchte ich ein paar interessante Aspekte hervorheben.

Marta Thorsheim befasst sich mit frühen Traumatisierungen aus transgenerationaler Sicht (S.68ff).

Da geht es etwa um mütterliche Ambivalenz in der Schwangerschaft, die sich dramatisch auf die Entwicklung des Kindes auswirkt und zu erheblichen Komplikationen bei der Geburt führen können, da die Ambivalenz Stressreaktionen bedingt, die sich in erhöhter Ausschüttung von Stresshormonen auch nachweisen lassen (Beitrag von Alice Schulze-Kraft, S. 81ff).

Der unerfüllte Kinderwunsch hat vielfältige Gründe in unaufgelösten inneren Konflikten und solchen des Paares. Nachweislich ist z.B. die Motilität und Fähigkeit zur Befruchtung der Samenzellen von der Befindlichkeit des Mannes abhängig (Beitrag von Annemarie Denk, S. 91ff).

Misslungene Abtreibungsversuche hinterlassen Spuren, die etwa in starkem Mangel an Vertrauen, der Angst verlorengehen zu können, der immer mitlaufenden Angst, dass etwas Schlimmes passieren kann, verzweifelt nach Sicherheit suchen oder von mütterlichen Anteilen als Stütze benutzt zu werden usw. manifestiert sein können. Frühe Traumatisierungen gehen mit Spaltungen einher, deren Auswirkungen vielfältig sein können (Beitrag von Gabriele Hoppe, S. 105ff).

Wie problematisch unter mehrgenerationalem psychotraumatologischem Aspekt die pränatale Diagnostik ist, deren Wert nicht so eindeutig ist, wie von medizinischer Seite gerne behauptet, stellt Birgit Assel in ihrem Beitrag dar. 70% der Fehlbildungen lassen sich im Ultraschall nicht erkennen und 30% sind Fehldiagnosen. Gleichwohl werden immer neue Fehlentwicklungen diagnostiziert, "ein Patient wird hergestellt" ohne dass es eine Therapie gibt. Die so erzeugten Sorgen und Verunsicherungen führen zu weiteren Komplikationen oder erzeugen sie sogar erst. Medizinalisierung der Geburt erzeugt evtl. mehr Probleme als sie heilt bzw. verhindert. Geburten mit Zange, Saugglocke oder Kaiserschnitt haben dramatisch zugenommen, wie überhaupt inzwischen die Geburt mehr mit einer Krankheit zu tun zu haben scheint (siehe auch Behrmann/Bös: Die Geburt meines ersten Kindes), geburtshelferisches Erfahrungswissen der Hebammen der Medizintechnik weicht.

Wie schwer Fehl- und Totgeburten zu verarbeiten sind, und welche traumatisierenden Auswirkungen sie für Nachgeborene haben können, beschreibt Cordula Schulte in ihrem Beitrag (S. 192ff). Sie hebt etwa den mangelhaften Kontakt zu den eigenen Körperwahrnehmungen werdender Mütter hervor, die eigene unverarbeitete Erfahrungen dem Nachgeborenen aufladen. Lange Zeit war es nicht üblich, Fehlgeburten zu bestatten und so den Eltern die Möglichkeit zu geben, ihr totes Kind zu betrauern, zu dem sie ja während der Schwangerschaft bereits eine Bindung eingegangen waren .

Interessant ist ebenfalls der Beitrag von Christina Freund zum Dilemma der modernen Frau, Karriere und Kinderwunsch zu vereinen (S. 216ff). Zuletzt (2014) traten Appel und Facebook mit dem aberwitzigen Angebot hervor, ihren Mitarbeiterinnen das Einfrieren ihrer Eizellen zu bezahlen, damit sie später Kinder bekommen. Das ist der Gipfel der Instrumentalisierung der Frauen und der Technisierung der Fortpflanzung. Und was die Bundesregierung vor nicht langer Zeit mit der U3-Unterbringung auf den Weg gebracht hat, widerspricht allem, was wir bislang über frühe und sichere Bindung wissen, zumal die personelle Ausstattung der Kitas katastrophal ist. In Frankreich, dass in diesem Zusammenhang als vorbildlich gepriesen wird, gibt es bereits wieder eine Hinwendung zu einer längeren Betreuung durch die Mütter (S. 217). Zweifelhaft erscheint mir in dem Beitrag, dass nur die Mütter die frühe Versorgung des Kindes sicherstellen können. Väter könnten da viel übernehmen, wenn es nur den Willen in der Gesellschaft gäbe, Erziehung und Bindung und wirklich gleiche Chancen zu etablieren, die Wirtschaft in den Dienst des Menschen zu stellen, nicht umgekehrt. In einer Megastudie in den USA, die 1991 begann und in der Familien bis zum Alter der Kinder von 15 Jahren immer wieder untersucht wurden, konnte ein Zusammenhang zwischen Fremdbetreuung und Verhaltensauffälligkeit gezeigt werden (S.220).

Die Forscher konnten sogar noch präzisere Aussagen treffen: Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Beginn der Betreuung in Kindereinrichtungen und ihrer Dauer und den beobachteten Verhaltensaufälligkeiten der Kinder bis zum 15. Lebensjahr, und zwar unabhängig von der Qualität der Fremdbetreuung. Das bedeutet: Je früher und je länger Kinder fremdbetreut wurden, desto mehr negative Auffälligkeiten zeigten die untersuchten Kinder (Böhm 2011, S. 317) (S. 221).

In einem weiteren Beitrag bemängelt Ruppert, dass in der Einschätzung der Magersucht und Bulimie häufig der Hintergrund der Opfer-Täter-Dynamik verleugnet werde.

Insofern blenden auch hier psychiatrische Diagnosen wie "Anorexie" oder "Bulimie" die traumatisierenden Umstände aus, dienen eher dem Täterschutz und stigmatisieren die traumatisierten Opfer (S. 273).

Allerdings scheint Ruppert hier einer monokausalen Betrachtungsweise zu erliegen, ein Eindruck, der sich durch das gesamte Buch zieht, wenngleich die Autorinnen auf bedeutsame und verleugnete Aspekte hinweisen.

Über die Aufstellung des Anliegens in der Einzelarbeit schreibt Vivian Broughton. Dabei verwendet sie u.a. sogenannte "Marker" für die Aufstellung, die in der Aufstellungspraxis der Systemischen Therapie als symbolische Stellvertreter bekannt sind. Allerdings nimmt sie als Therapeutin selbst auch Positionen ein, wobei sehr auf die "Sorgfalt und Klarheit" (S. 278) der Therapeutin geachtet werden müsse, damit es nicht zu einer Konfusion komme, also unklar werde, wann die Therapeutin in welcher Rolle ist.

Es bleibt ein Unbehagen nach der Lektüre zurück, dass sich hauptsächlich in dem Eindruck der Verallgemeinerung traumatischer Früherfahrungen manifestiert, sowie in dem missonarischen Eifer, der zwischen den Zeilen mitschwingt. Da ist mal wieder die Methode schlechthin gefunden. Und die Frauen feiern den Erfinder. Gleichwohl ist es wichtig und verdienstvoll, für die Folgen von Traumatisierungen in früher Lebensphase zu sensibilisieren. Solange die Ergebnisse der Aufstellung nicht verifiziert werden können (was ja teilweise möglich ist etwa durch Nachfragen bei Dritten oder auch durch Einsehen der Geburtsprotokolle) wird Wahrheit im "objektiven Sinne" auch auf diesem Weg nicht notwendig konstituiert, allenfalls ein persönliches Narrativ, mit dem sich weiter arbeiten lässt.

Bernd Kuck      
Dezember 2014

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