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Rattner, Josef/Danzer, Gerhard: Liebe und Ehe. Zur Psychologie der Zweierbeziehung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001


Rattner und Danzer sind zwei erfahrene Berliner Ärzte und Psychotherapeuten, die aus dem Blickwinkel der Tiefenpsychologie, wie sie von Freud und Adler entwickelt wurden, das Menschheitsproblem "Liebe und Ehe" betrachten. Und so beginnt der erste Aufsatz mit dem Titel „Was Menschen in Liebe und Ehe beieinander suchen und aneinander finden oder vermissen" mit Überlegungen Sigmund Freuds über Partnerwahl und dem Ehekonzept von Alfred Adler, wobei Adler wesentlich stärker als Freud an praktischer Menschenkenntnis interessiert war. Nach Adler sollte bei der Partnerwahl beachtet werden, ob der oder die Erwählte einen Beruf hat, ob er sich für andere Menschen interessiert, ob er emotional ausgeglichen ist, ob er zu Freundschaft und Gespräch fähig ist, ob er ein allgemeines Welt- und Kulturinteresse zeigt. Liebe und Ehe stellen ununterbrochen Anforderungen höchsten Grades an die beiden Beteiligten.
Die Gefühlsschulung scheint eine der wichtigsten Aufgaben, um sich liebend an die Mitmenschen anschließen zu können. Vor allem die Liebe lässt den Wert des Menschen erkennen, macht also wertsichtig. Der lieblose Mensch ist weitgehend wertblind. Im Schnellverfahren werden Gefühlstheorien von Philosophen wie Max Scheeler und Martin Heidegger angetippt. Nach Ansicht der Autoren muss der Akzent in Therapie und Erziehung auf der Gefühlspädagogik liegen. Gefühlserziehung sei der einzige Weg, der später zu einer sinnvollen Lebensgestaltung führe. Erich Fromm hat in seinem Buch „Die Kunst des Liebens" (1956) die Auffassung vertreten, das Liebe für niemanden ein Geschenk des Himmels sei, sondern stets eine aktive Leistung des Menschen darstellt. Liebe ist Treue zu sich selbst, gleichwohl aber auch größtmögliche Hingabe.
Im zweiten Aufsatz „Was ist Liebe?" umkreisen die beiden Autoren dieses Phänomen, ohne ihm zunächst näher zu kommen. Wieder werden Gefühlstheorien bemüht, die Liebe sei kein Strohfeuer, sondern ein langfristiges Zusammenspiel von Denken, Fühlen, Wollen, Aufmerksamkeit, Haltungen und Motivationen. Die Sexualität wird natürlich auch erörtert, wird aber von den beiden Autoren nicht ins Zentrum gerückt. Der Frage von Ehe und Partnerschaft geht es nicht in erster Linie um Sexualität und Kinderkriegen, sondern um eine andere Frage, die so formuliert wird: „Bist du der Mensch, der meine Selbstentfaltung unterstützen kann? Bist du in der Lage, meinen Leib und damit mein tieferes Selbst zum Erblühen zu bringen? Kannst du mich aus meiner inneren Einsamkeit und Isolierung erlösen?" (S.53) Nur wo sich zwei Menschen mehr oder minder kontinuierlich entfalten, kann ihr Sexus lebendig bleiben (63).
Die Autoren folgen damit ausdrücklich nicht der Position des Schweizer Heidegger-Schülers Medard Boss, welcher selbst in den Perversionen Rudimente von Glück und Enthusiasmus sah, an den in der Therapie angeknüpft werden könne. Rattner und Danzer meinen mit Entschiedenheit, dass sich die Perversen in dieser Hinsicht einer Täuschung hingeben, der der gutgläubige Boss auf den Leim gegangen ist (124). Ein zentrales Thema in Ehe und Partnerschaft ist der Seitensprung und die Prostitution. Schätzungen zufolge kommt es in drei Vierteln aller Ehen zu Seitensprüngen. Dahinter stehen oft Racheaffekte oder die Angst vor emotionaler Dauerbindung. Der Ausschließlichkeitsanspruch wird von den Autoren nicht hinterfragt. Ihre Darlegungen zur Sexualität der Prostitution haben die Absicht, auf den alltäglichen Sexualfaschismus hinzuweisen, der das Verhältnis der Geschlechter in vielen Fällen vergiftet (164).
Das Bedürfnis nach einer stabilen Zweierbeziehung scheint nach Ansicht der Autoren unausrottbar in der menschlichen Natur zu liegen (71). Wer sich nicht zur langjährigen Zweierbeziehung bekennt, beispielsweise lieber alleinerziehende Mutter oder Single bleiben möchte, dem attestieren sie eine psychische Hemmung bzw. tiefsitzende Ängste, und überhaupt seien diese Menschen zu jeglicher Kooperationsfähigkeit unfähig. In solchen Äußerungen zeigen die Autoren eine gewisse konservative Haltung, und ihre Behauptung, die langjährige monogame Zweierbeziehung sei sogar anthropologisch verankert, kann man mit Blick auf die vielen unterschiedlichen Formen des Zusammenseins, die die Menschen in vergangenen Zeiten und an anderen Orten gefunden haben, gewiss nicht folgen.

Die höchste psychische Ausformung ist für sie die Personwerdung, der sie umfangreiche Teile des Buches widmen. Person ist eine höhere und wertvollere Form des Menschseins, ein sich stetig weiterentwickelndes Wesen. Das könne vor Sturheit und Stagnation schützen, den hauptsächlichsten Störfaktoren von Zweierbeziehungen. Viele ihrer Äußerungen zur Person und zur Zweierbeziehung legen nahe, eine enge Beziehung und intensive Nähe ohne zeitliche Dosierung zu suchen. Liebe ist ihrer Ansicht nach eine innige Zuwendung zum Du, ein mehr oder weniger konstantes Zueinanderhinfließen vom Ich zum Du. Derartige idealistische Forderungen können leicht überfordernd wirken, und ob sie in dieser allgemeinen Formulierung praktikabel sind, scheint doch ein wenig fraglich. Das gerade das ewige Zusammensein auch stabile Ehen belasten und fundamental erschüttern kann, wird von den Autoren nicht berücksichtigt.
Verheiratete leben länger als Geschiedene, Verwitwete oder Singles. Die Qualität einer Liebesbeziehung oder einer Ehe kann ganz entscheidend zum Gesundheitszustand oder zur Krankheit eines Menschen beitragen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich deshalb mit Ehe und Psychosomatik. Damit sollen die körperlichen Voraussetzungen und Konstitutionen eines Menschen keineswegs übergangen werden. Vertreten wird gleichwohl die Meinung, dass eine psychosomatische Erkrankung gegen den Partner oder gegen andere Personen des näheren Umgangs gerichtet sind. Krankheiten würden häufig mit Dissonanzen größeren Ausmaßes zwischen beiden Partnern einher gehen. Verfolgt wird die über 100 Jahre alte Vorstellung, dass Alkoholkrankheiten durch lebensgeschichtliche Ereignisse (Stress) sowie durch Charakter und Weltanschauung ausgelöst und kodifiziert werden.Den Anschluss an den neueren Stand der Psychosomatikforschung, die eine "Schuld" der Erkrankten verneint, haben die Autoren noch nicht erreicht.
Wer den von den Autoren formulierten hohen Anforderungen an eine monogame, lebenslange Ehe nicht gerecht wird, gerät schnell unter Neurose- oder gar Psychoseverdacht. Kant, Schopenhauer, Lichtenberg, Sartre, Binswanger Goethe, Medard Boss, Konrad Lorenz - wenn die Messlatte sehr hoch gelegt wird, kann niemand mehr dem Standard genügen.

Von mehr Farbe und Lebendigkeit als die theoretischen Ausführungen ist die Darstellung von vier Ehebeispielen aus der Kultur, beginnend mit der Ehe von Johann Wolfgang Goethe und Christiane. Was in einem früheren Aufsatz leicht missbilligend konstatiert wurde, dass sich nämlich mancher hochstehende Mann eine einfache Frau wählt, um den Rangunterschied zu zementieren, wird hier wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ihre Ehe war gewiss nicht von Schwierigkeiten frei, aber ebenso gewiss ist, dass Christiane und Johann Wolfgang sich aufrichtig liebten. Immerhin hatte ein Ministerpräsident eine Blumenbinderin zur Frau genommen und nach langer „wilder Ehe" geehelicht. Auch hatten wir bereits gesehen, dass Danzer und Rattner dem Seitensprung kritisch gegenüber stehen. Goethe hatte nur einmal Gelegenheit dazu und war auch nicht abgeneigt, doch versagte ihm sein Geschlechtsorgan den Dienst. Bei Goethe wird der Seitensprung als Abenteuer bezeichnet, „dass nun einmal in den Wechselfällen des Lebens nicht zu umgehen war". (174)
Wenn man von einer katastrophalen Paarbeziehung reden will, dann von einer Tolstoi-Ehe. In jungen Jahren lebte Tolstoi ein wildes und beinahe lasterhaftes Leben, seine sexuellen Erfahrungen holte er sich bei Prostituierten. Der Dichter konnte die Finger nicht von hübschen Bäuerinnen lassen, so dass es zu hässlichen Eifersuchtsszenen mit seiner Ehefrau Sophie kam. Nach einigen erträglichen und manchmal sogar glücklichen Ehejahren verwickelte sich Tolstoi nach seiner religiösen Wendung in unendliche Streitigkeiten mit seiner vernünftig denkenden Frau.
Wie schon bei Goethe und Tolstoi fiel Katja Mann die Rolle der Unterstützerin und Verwöhnerin zu. Auch sie stand dem Haushalt vor, pflegte und erzog die Kinder, unterstützte ihren Mann bei seinen literarischen Arbeiten, und so wuchs durch die Tatkräftigkeit der Frau Thomas Mann in die Rolle einer ethischen Instanz hinein. Da sich mit Thomas und Katja zwei recht unterschiedliche Charaktere zusammen fanden und Thomas Mann noch eine latente Homosexualität pflegte, kann auch dieses Ehepaar nicht dem hohen Ideal von Rattner und Danzer genügen. Thomas Mann war unspontan und er „wohnte nicht im Leibe", was er hinter einer großbürgerlichen Fassade verbarg. Aus dieser Spannung der Persönlichkeit ergab sich eine produktive Dramatik, die er in ein großartiges Lebenswerk überführen konnte. Während Goethe durch Liebeleien seinen Eros zu immer neuen Höhenflügen anspornen konnte, war Thomas Mann produktiv dadurch, dass er nicht durch erotische Liebeleien abgelenkt wurde.
Von außerordentlichem Interesse ist die „geistige Ehe" zwischen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, die ihre Beziehung als eine „notwendige" definierten, die „zufällige Abenteuer" nicht ausschließen sollte. In ihrer letztendlich unerschütterlichen Geistesgemeinschaft gab es keine Sexualität. Sartre war auf vielerlei Art süchtig, nicht nur nach Ruhm und Liebe, sondern auch nach Alkohol, Nikotin, Aufputschmittel und Schlafmittel. Beauvoir war in dieser Hinsicht weniger extrem, und sie war auch nicht die Zuarbeiterin und Unterstützerin des Mannes, sondern gleichwertiges Gegenüber. Gemessen wiederum am „Person"-Konzept der beiden Autoren kommen die beiden französischen Existenzialisten nicht an dieses Ideal heran, erwerben aber die Bewunderung von Rattner und Danzer durch ein immenses Werk, das durch ein starkes und humanitäres Ethos geprägt ist.
Etwas mehr innerhalb der bürgerlichen Norm gestaltete sich das Eheleben der drei Gründer der Tiefenpsychologie Freud, Adler und Jung. Freuds Weltbild war patriarchalisch und einige seiner Äußerungen über „die Frau" sind abstoßend. Das überrascht, denn im psychoanalytischen Umfeld arbeiteten eine Reihe von intelligenten Frauen, deren Leistungen Freud anerkannte und denen gegenüber er sich als wahrer Gentleman zeigte. Doch Martha Freuds Rolle war ganz darauf ausgerichtet, ihrem Mann den Haushalt zu führen, die Kinder zu erziehen und ihm den Rücken frei zu halten.
Das kann man von Raissa Adler nicht behaupten, die stark an der Politik und wenig an der Psychologie Interesse hatte. Auch Adler lebte ganz seinen Psychologie, und seine politisch ambitionierte Frau musste sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Raissa war sicherlich Adlers einzige Liebe, doch wurde vor wenigen Jahren bekannt, dass der Gründer der Individualpsychologie nebenbei mindestens eine Liebesaffäre hatte. Darüber nachzudenken, wie der entschiedene Monogamist Adler zu einer Liebesbeziehung kam, halten Rattner und Danzer für moralistisches Getue. Doch blättern wir zurück zu den Ausführungen der beiden Autoren zum Seitensprung, so lesen wir dort, dass vielen dieser Charaktere das Lügen und Verheimlichen (der Nebenbeziehung) ein fast existenzielles Bedürfnis ist. Der Betreffende trennt sich innerlich von seinem Partner und schafft sich eine imaginäre Überlegenheit über den Ahnungslosen. Die Autoren tadeln auch sonst die Abschweifungen von einer dauerhaften Zweierbeziehung, doch bei Adler drücken sie ein Auge zu.
Zum Schluß hin behandelt das Autoren-Duo Werke der Weltliteratur, in denen mit psychologischem Gespür allgemein menschliche Probleme abhandelt werden, darunter „Madame Bovari" von Flaubert sowie „Nora" und „Hedda Gabler" von Ibsen. Die gegenseitige Zerfleischung der Eheleute ist mit dem Begriff der „Strindberg-Ehe" zu einem geflügelten Wort geworden, wobei Strindberg offenbar von eigenen Erlebnissen ausgehen konnte. In „Der Vater" dramatisiert er den Kampf zwischen Mann und Frau. Hier treibt eine Frau den Mann in den Wahnsinn. Daraus lässt sich nicht unbedingt etwas für die eigene Ehe ableiten, aber das Drama der Nachbarn interessiert uns meistens mehr als das eigene. Auch „Effi Briest" wurde von Fontane wunderbar erzählt, doch wie in den anderen Beispielen rühren die Konflikte aus einer patriarchalischen Kultur her, die zwar nun nicht völlig überwunden ist, deren Konfliktpotenzial heute aber so nicht mehr existiert. Einen starren männlichen Ehrenkodex wie vor 100 Jahren finden wir heute nur noch in den orthodoxen-islamischen Gesellschaften.
Man hat ein wenig den Eindruck, als ob Rattner und Danzer eine vormoderne Gesellschaft beschreiben. Kein einziges der Ehe- und Literaturbeispiele stammt aus den letzten 60 Jahren. Gewiss ist wahr, dass auch heutige Ehen mehr Humanismus und Gemeinschaftswerte benötigen; mit mehr Menschenkenntnis und einem ethischen Standpunkt - über den die Autoren ohne Zweifel verfügen - würde es auf unserem Planeten wohnlicher zugehen. Doch ihr Bezug zur bunten und lebendigen Gegenwart scheint manchmal etwas dünn zu sein. Man muss sich nur einmal die jungen, selbstbewussten türkischen Mädchen in einer deutschen Großstadt anschauen, um zu sehen, dass sich die Zeiten gewaltig gewandelt haben.
Und warum immer wieder der Rückgriff auf die orthodoxe Psychoanalyse, deren Befunde selbst die Autoren als entweder falsch oder überholt ansehen? Warum immer noch die Verbeugung vor Freud? Auch bleiben die Autoren oftmals im Ungefähren: "Vermutlich ist ein Teil der Impotenz und der Frigidität auch von der Biologie her zu verstehen", heißt es beispielsweise. Solche Formulierungen lassen alles offen, tun niemandem weh. Einige Wiederholungen fallen auf, so wird immer wieder auf Freuds Sexualtriebtheorie zurückgekommen oder auf die Formulierung Max Schelers, der Mensch könne sich in Werte „hinauflieben". Auffallend ist die idealistische Gesinnung der Autoren, die sich manchmal in bedenkliche und unbewiesene Annahmen verliert, wie beispielsweise die, dass niemand wahnsinnig werden könne, wer in Arbeit, Liebe und Sprache zu den Mitmenschen findet.
Im Großen und Ganzen handelt es sich jedoch um eine einzigartige Zusammenstellung in einem ganz eigenen, unverwechselbaren Stil, der getragen ist von der Vorstellung, dass die monogame Langzeitehe die letzlich einzige, dem Menschen gemäße Partnerschaftsform ist, an die hohe Anforderungen gestellt werden, damit sie als gelungen bezeichnet werden kann. Das Buch bietet viele Anregungen, hat einen breiten Horizont und ist in einem flüssigen Stil geschrieben, der das Lesen zur Freude macht. Das gilt vor allem für die Fallgeschichten und literarischen Beispiele.

Jens Naumann

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