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Pusch Luise F.: Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend. 267 Seiten, Aviva Verlag


Frau Pusch ist als feministische Sprachwissenschaftlerin, Frauenbiographieforscherin und Autorin mehrerer Bücher in der Frauenbewegung bekannt. 1944 in Gütersloh geboren studierte sie Angelistik, Latinistik und Allgemeine Sprachwissenschaft und habilitierte sich 1978 an der Universität Konstanz. Sie begründete zusammen mit Senta Trömel-Plötz und Marlis Hellinger die feministische Sprachwissenschaft in Deutschland. Unter anderem publizierte sie 1984 Das Deutsche als Männersprache. Seit 1987 gibt sie den Kalender Berühmte Frauen heraus und ist darüber hinaus Herausgeberin zahlreicher frauenbiographischer Sammelbände. Frau Luise F. Pusch hat im bundesdeutschen Sprachraum wesentlich zur Verbreitung des Binnen-I beigetragen. Erfunden hat es ein Schweizer Journalist, Christoph Busch. Die TAZ übernahm in den frühen 1980er Jahren als erste überregionale Zeitung diese Schreibweise. Frau Pusch, Sprachwissenschaftlerin, sagt über das Beharren von Linguist:innen auf dem generischen Maskulinum:

»Dafür gibt es sprachwissenschaftlich keinen vernünftigen Grund außer dem, dass Frauen unsichtbar bleiben sollen. Für diesen Zweck ist das generische Maskulinum unübertroffen« (Interview in der wochentaz, 15. - 21. April 2023, S. 31).

Im vorliegenden Text, dem ersten Teil ihrer Autobiographie 1944 – 1965, verwendet sie allerdings eine andere Schreibweise. Sie setzt das Gendersternchen ans Ende des Femininum, womit sie ausdrücken möchte, dass das Femininum alle Geschlechter umfasst. Bei einigen abgeleiteten Wörtern, z. B. »Studentenheim« und »Freundschaften« setzt sie den Genderstern ans Ende des Maskulinums: »Studenten*heim«, »Freund*schaften«. Sie experimentiert also weiter, verlebendigt die Sprachentwicklung und versucht das männlich dominierte der deutschen Sprache zu überwinden.

Den zweiten Teil ihrer Autobiographie hat sie schon 1981 veröffentlicht. Er behandelt ihre Lebenszeit mit ihrer Lebensgefährtin Sonja von 1965 – 1976, sowie die Zeit der Trauer und des Aufschreibens nach deren Tod von 1976 - 1980 und trägt den Titel: Sonja: Eine Melancholie für Fortgeschrittene.

Frau Pusch schildert im vorliegenden Text die Situation des Mädchens und der jungen Frau im Nachkriegsdeutschland und vor allem die ausgeprägte Homophobie, die bezüglich der Männer im öffentlichen Raum überall sichtbar war, die bezogen auf die weibliche Identität und sexuelle Orientierung weniger öffentlich, aber atmosphärisch überall präsent war und Luise in schwere innere Konflikte führte. Vor allem die Unmöglichkeit, mit anderen über ihre Liebesgefühle bestimmten Mädchen oder Frauen gegenüber sprechen zu können. Sie schildert sich als innerlich Einsame und Isolierte, die glücklicherweise über die Bildung einen Ausweg fand, bis sie schließlich zum Engagement in der Frauenbewegung fand und so in einer Gemeinschaft – mindestens im Geiste – Zugehörigkeit erleben konnte.

Derie LeserIn erfährt allerdings kaum etwas über erfahrene Diskriminierung, jedoch lässt uns die Autorin an den inneren Qualen teilhaben, die ein ständiges sich Verstellen und Verleugnen der eigenen Gefühle mit sich bringt. Diese Not wird immer spürbar und speist sich aus der atmosphärischen Wahrnehmung, dass diese Heranwachsende sich irgendwie falsch fühlte, immer auf der Hut sein musste, nicht unangenehm aufzufallen. Über 13 Jahre hinweg suchte sie bei mehreren PsychotherapeutInnen Unterstützung, darunter auch in einer psychoanalytischen Behandlung. Eine Gruppentherapie mutet einigermaßen skurril an, erbrachte aber eine wichtige Erkenntnis durch den gemeinsamen Kneipenbesuch der TeilnehmerInnen im Anschluss an die Therapiesitzung. Hier erlebte sie die Gruppe in allgemeiner Heiterkeit, woraus sie schloss, dass auch die anderen KneipengästInnen normaler erschienen als sie wahrscheinlich waren. »Das heißt, wir alle sind mit all unseren Macken völlig normal. Eine brauchbare Erkenntnis fürs Leben« (S. 242). Ferner lernte sie, dass ihre Probleme, ihre Ängste und ihr Lesbischsein, im Vergleich zu denen der anderen GruppenteilnehmerInnen, geringfügiger erschienen. Aber erst der letzte Therapeut, den sie aufsuchte, ermutigte sie anscheinend zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen und sich im Feminismus zu verankern, so aus der Isolation auszubrechen.

Als Tiefenpsychologe bleibt mensch jedoch etwas irritiert hinsichtlich des gering anmutenden Maßes an Selbsterkenntnis zurück. Trotz mehrerer Therapien. Dabei geht es nicht darum, die sexuelle Orientierung in Frage zu stellen oder gar zu diskriminieren. Es bleibt jedoch ein Unbehagen, weil diese Orientierung als unausweichlich, als biologisch gegeben transportiert wird. Biologistische Theorien sind in der Regel aber kurzschlüssig. Derie Mensch ist zu erheblichen Teilen aus der biologischen Determination ausgeschert, ist »der erste Freigelassene der Natur« und wir verstehen die Existenz phänomenologisch-psychodynamisch. Die sexuelle Orientierung ist kein Schicksal, sondern eine Wahl – wie unbewusst auch immer. Vermutlich sind wir Menschen biologisch bisexuell und die heute viel diskutierten queren Varianten haben mehr damit zu tun, dass die Gesellschaft von jeher eine eindeutige Zuordnung verlangte, so dass derie echte Hermaphrodit nicht sein durfte und wer sich in seinem biologisch sichtbaren Leib anders fühlte als der suggerierte, war verkehrt, musste zu einer Eindeutigkeit gezwungen werden. Jedoch ist die sexuelle Identität komplexer und es ist schade, das dies aus der Darstellung eher erschlossen werden muss.

Es sei mir also gestattet, eine Interpretation vorzulegen, darin einige Elemente herauszustellen, die stärker auf das familiär-gesellschaftlich Vorfindliche abstellt und der daraus unbewusst gezogenen Schlüsse, die die sexuelle Orientierung und das Sein zur Welt geformt haben mögen. Natürlich läuft die Interpretation insofern ins Leere, als es lediglich Schlussfolgerungen aus dem Mitgeteilten sind, die im Gespräch nicht verifiziert werden können. Und was der Mensch mitteilt ist ja schon immer bearbeitet und unterliegt der nietzscheschen Einschränkung zur Möglichkeit der Selbsterkenntnis:

»Selbstbeobachtung. — Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut verteidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als seine Außenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verräter machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen« (Menschliches, Allzumenschliches, Aphorismus 491).

Der Frauenverächter Nietzsche hat gleichwohl Allgemeinmenschliches sehr deutlich gesehen und soll hier zu Worte kommen dürfen.

Was hat Luise also vorgefunden und erlebt? Da ist zunächst die Beziehung zur Mutter, die mit der emotionalen Komplexität ihrer Tochter nichts anfangen konnte. Schon die Namensgebung »Frohmut« (nach der Namensänderung als mahnende Erinnerung im F. erhalten geblieben, Frau Pusch nennt es Pietät der Mutter gegenüber) ist eine Diskriminierung und ein Auftrag. Wie eigentlich gewünscht war die älteste Tochter nicht fröhlich, sondern eher melancholisch und ängstlich. Identifikatorisch konnte sie sich nicht an ihre Mutter halten, die in ihren Beziehungen zu Männern unglücklich war. Der Vater von Luise hatte sich schon bald absentiert, zahlte auch keinen Unterhalt. Erst ein befreundeter Rechtsanwalt sorgte dafür, dass sie immerhin das Kindergeld erhielt, dass ihr Ex stillschweigend eingestrichen hatte. So und durch den letzten jugendlichen Freund der Mutter besserte sich die finanzielle Situation der alleinerziehenden Mutter von drei Kindern. An einem Punkt gab es doch Identifikationsmöglichkeit mit der Mutter. Ursprünglich gelernte Krankenschwester hatte sie sich zur Sekretärin ausbilden können, war darin sehr firm und arbeitete bei der britischen Besatzung, wo sie auch viel besser verdiente. Sie korrigierte stillschweigend stilistische und Fehler der Rechtschreibung, was meist gut aufgenommen wurde. Nicht so in einer Rechtsanwaltskanzlei, wo der „Herr“ sich wohl gekränkt fühlte, dass eine Frau etwas besser konnte. Er verlangte von ihr, dass sie gefälligst zu schreiben habe, was er diktiert; sie kündigte die Stelle. In der Verwaltung fand sie dann eine besser bezahlte, vor allem hatte sie nun auch Anspruch auf eine anständige Rente. Bei den Besatzern hatte sie drei verschiedene Liebschaften, die aber auch der Aufbesserung der Lebensmittelsituation der Familie galten. Zuletzt war es ein Offizier aus Kanada, der sie nach Kanada holen wollte, sie jedoch erfuhr, dass er dort schon verheiratet war – eine übliche Form der verdeckten Prostitution. Einer der Soldaten kümmerte sich liebevoll um die Kinder, brachte Luise das Schwimmen bei. Die Hilfestellung seiner Hand „verirrte“ sich jedoch häufig zwischen den Beinen des Kindes, was sich bei anderen Gelegenheiten steigerte und nicht mehr „begründen“ ließ. Luise erzählte davon ihrer Mutter, die ihn dann hochkant hinauswarf. Auch das eine wichtige Erfahrung, von der Mutter geschützt zu werden, von Männern ausgenutzt. Die Mutter hat dann schließlich doch den 17 Jahre jüngeren Mann geheiratet – wofür sie hinter vorgehaltener Hand sicherlich ebenfalls mit Häme bedacht wurde. So gab es trotz alledem einen rebellischen Zug bei der Mutter, den Frau Pusch schließlich weiter entwickelt hat.
Zwar las die Mutter durchaus, war aber nicht wirklich gebildet. Ganz anders die Familie ihrer ersten großen uneingestandenen Liebe, Charlotte. Zu ihr wurde sie immer Freitags eingeladen und hatte Teil an einer anderen Welt. Luise lernte eifrig, war eine gute Schülerin – Charlotte war besser, wohl hochbegabt. Durch die freundliche Zuwendung von Charlottes Mutter, Frau Frey, waren die »Freytage« wahre Offenbarungen der Literatur und der Klassischen Musik. Hier gab es Nahrung für die geistigen Interessen.
Ein anderes Element war die ärmliche Situation im Elternhaus. Sie trug getragene Kleidung, was immer auch etwas demütigend war. Da sie kurzsichtig war, trug sie dicke Brillengläser, so dass sie dem Klischee weiblicher Schönheit nicht genügte. Dies spornte sie möglicherweise erst recht an, sich die geistige Welt zu erobern. Die Entdeckung der staatlichen Bibliothek war geradezu ein Eldorado der geistigen Welt, dass sie ausgiebig nutzte. Sie arbeitete schon als Schülerin in den unterschiedlichsten Bereichen schwer. Sie sparte zunächst auf Rollschuhe, dann aber auf einen Plattenspieler und kaufte viele Schallplatten. Identifikatorisch schwärmte sie für Schauspielerinnen, später dann für die Sopranistin Joan Sutherland. War sie in der Freyfamilie meist von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt, so konnte sie mehr und mehr zu den Gesprächen über moderne Literatur beitragen, ja war auch diejenige, die Sutherland bei ihnen bekannt machte. Immer wieder versuchte sie die Aufmerksamkeit und Anerkennung von Frauen zu gewinnen und Frau Frey war ihr ein Mutterersatz – wie sie ihr später ein Tochterersatz, als Charlotte zum Studium auszog. Frau Frey entwickelte später ein Alkoholproblem in der letztlich wohl unglücklichen Ehe. Anscheinend nachdem ihr Mann das von ihm herausgegebene Literaturjournal eingehen ließ – er interessierte sich eigentlich sowieso nicht für Literatur. Warum sie es nicht selbst weiter herausgab, bleibt unklar. Ob es daran lag, dass eine Frau in den Jahren des Familienministers Wuermeling nicht ohne Zustimmung des Ehemannes geschäftsfähig war – wir wissen es nicht (Wuermeling war 1953 Familienminister und erzkatholisch. Bis 1958 hatte der Ehemann auch das alleinige Bestimmungsrecht über Frau und Kinder inne. Auch wenn er seiner Frau erlaubte zu arbeiten, verwaltete er ihren Lohn. Das änderte sich erst schrittweise. Ohne Zustimmung des Mannes durften Frauen kein eigenes Bankkonto eröffnen, noch bis 1962. Erst nach 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen; Deutschlandfunk Kultur, 16.12.2015).

Vielleicht ist deutlich geworden, dass diese beeindruckende Frau in ihrer Entwicklung sehr feinsinnig die Geringschätzung der Frau in den 50er und 60er Jahren wahrnahm – die Gleichberechtigung ist ja noch immer nicht verwirklicht – und die Situation der Frau, als Objekt der Männer. Die Liebe zu den Frauen lässt sich auch verstehen als die gesuchte Liebe zur Mutter. Bei den Männern war sie sowieso nicht zu finden. Die Biologie alleine macht es nicht, wenngleich ein Element offen bleibt, welches Alfred Adler das schöpferische nannte, die schöpferische Leistung des Individuums aus dem Vorfindlichen. Und hier wieder ein Beispiel für eine gelungene Anstrengung: Eine bewunderungswürdige Frau – wie schön, dass bei den Frauen die Liebe fand.

Bernd Kuck      
August 2023

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