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Kämmerer,Wolfgang: Auf der Suche nach dem Wort, das berührt. Intersubjektivit und Fokus im psychosomatischen Dialog. 117 Seiten, Springer Verlag 2016.


Der Autor legt im vorliegenden Text seine über 25-jährige Erfahrung als Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin im Krankenhaus der Henriettenstiftung Hannover, akademisches Lehrkrankenhaus der Medzinischen Hochschule Hannover vor. Das ist dem Text auch anzumerken, in dem ein tiefes Verständnis des erkrankten Menschen deutlich wird. Ebenso wird deutlich, dass eine Leitlinien gerechte Medizin zu einer Leidlinien Medizin verkommen kann, wenn von der Bemühung zur Erfassung der Individualität eines kranken Menschen abgewichen wird. Da scheint sofort auf, was im derzeitigen Krankheitssystem nicht mehr existiert, jedoch dringend notwendig ist: Zeit und aufmerksames Gespräch mit derm PatientIn. Dies ist Kämmerer wichtig und zwingend notwendig, wenn mensch mit dem intersubjektiven Ansatz in der Psychotherapie ernst macht. Intersubjektivität heißt eben, dass derie PatienIn nicht Objekt einers allwissenden ÄrztIn ist, sondern eine Einfluss nehmende Person bereits im Erstkontakt. Das heißt dann eben auch, dass die beiden interagierenden Personen gemeinsam um ein Verständnis ringen – eigentlich nicht ringen, sondern sich darum bemühen. Notwendig ist daher eine andere Einstellung und Haltung zum Dialog, der eben nur zu Teilen die medizinisch-naturwissenschaftlichen Befunde notwendig beachtet, im wesentlichen aber einer personalen, phänomenologischen Grundhaltung folgt. Es wundert denn nicht, dass Kämmerer einen Schwerpunkt seiner Geisteshaltung in der anthropologischen Medizin und Philosophie gefunden hat. Dies bedeutet u. a., dass die Krankheit nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Genese, sondern vor allem hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes in der Kommunikation und ihrer Wirkung auf das Gegenüber betrachtet wird. So ist es wichtig, dass vom Patienten Gezeigte als Anrede im intersubjektiven Prozess, in der sich ereignenden Szene zu begreifen. Es geht mehr um das Dazwischen, die Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty). Das ist mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht gut greifbar, gleichwohl hoch wirksam, da der Mensch immer schon intentional bezogen, seine Lebensäußerungen Ausdruck seiner zwischenmenschlichen und zwischenleiblichen Bezogenheit ist. Die Leiblichkeit des Menschen ist im Austausch mit seiner Umwelt immer gegeben, kann eigentlich nicht auf einen bloßen Körper reduziert werden. Hier verbleibt Kämmerer im alten Dualismus, wenn er vom Leib als dem beseelten Körper spricht.

Kämmerer legt Wert darauf, dass sich nur innerhalb einer »empathisch und resonant einfühlenden Beziehung« die Worte finden lassen, die berühren und aus Sackgassen herausfinden helfen. Dies steht im Kontrast zum Titel (wahrscheinlich vom Verlag gewählt?), worin es um das Suchen geht. Von Picasso stammt die Formulierung, wonach wer sucht, immer von Bekanntem ausgeht; wer jedoch findet, der kann sich überraschen lassen, findet tatsächlich Neues, Einmaliges, bislang Unbekanntes. Das macht den Unterschied zur Anwendung von Theorien und dem Sich-einlassen auf eine Beziehung zu einem noch unbekannten Menschen. Dies bildet sich für Kämmerer in der Metapher des Baumstammsägens ab. Ein beliebter Test für angehende Ehepartner. Nur wer hier kooperiert, wird als Paar erfolgreich ins gemeinsame Leben starten. Und für die, die nur glauben, was auch gemessen werden kann: Tatsächlich lässt sich die gelingende Kooperation in den physiologischen Daten (»Herzfrequenz, Atmung, Blutdruck etc.«) von einer Vorgehensweise ohne Rücksicht auf den Anderen unterscheiden (S. 9).

Ein Leitsatz, anders als eine Leitlinie, zieht sich durch den gesamten Text: »Der Behandler muss Abschied nehmen von der Illusion, besser als der Patient zu wissen, was diesem zur Behandlung gut tut« (S. 13).
Im Verlaufe wird diese Haltung an Therapievignetten transparent. Eigenartig dabei, dass der Autor es doch vermeidet klar darzustellen, ob es eigene oder supervidierte Behandlungsbeispiele sind. Das lässt eine in gewisser Weise widersprüchliche Haltung hin zu einer objektivierten, um Wissenschaftlichkeit bemühte Darstellung anklingen, die die personale Begegnung nicht immer deutlich werden lässt.
Es war meiner Erinnerung nach Georg Groddeck, der sich selbst als »wilden Analytiker« bezeichnende Vorreiter einer Psychosomatik, der vom Symptom als Brief an die Seele sprach – leider in Hieroglyphen verfasst und so nicht einfach zu lesen. In diesem Sinne ist Kapitel 4 betitelt: »Das Symptom als Spur und Anrede«. Und die Anrede verlangt eben nach Antwort, einer Antwort, die im resonanten Verstehen gründet nicht in einer Technik. Daher müsse der Dualismus von Körper und Seele ebenso überwunden werden, die die Illusion eines unbeteiligten Beobachters.

»Der Dualismus von Körper und Seele, der Mythos vom unbeteiligten Beobachter müssen als medizinische Realität zwar als real gegeben akzeptiert, dennoch in der Praxis des Umgangs mit dem Patienten als reduktionistische Vereinfachung immer von neuem überwunden werden« (S. 36f).

Folgerichtig sieht Kämmerer den Begriff »Psycho-somatik« als problematisch, da in ihm begrifflich der Dualismus von Körper und Seele nicht aufgehoben wird, ja sogar suggeriert werde, dass ein kundiger Beobachter »einen Menschen in seinen körperlichen und seelischen Aspekten erfassen kann« (S. 40). Erschwerend ist für die ganze Thematik, dass einzelne PatientInnen sowohl an organisch wie funktionell bedingten Krankheiten leiden. Funktionell werden solche Erkrankungen genannt, die mit physiologischen »Auslenkungen« einher gehen. Sie imponieren als ein Zuviel oder Zuwenig der normalen Organfunktion. Solche Zustände kennt der gesunde Mensch als vorübergehend, etwa bei zu wenig Schlaf, zu viel Alkohol, Kaffee oder Nikotin – oder eine Mischung daraus. Es tritt wieder eine Normalisierung ein, wenn das schädigende Verhalten nicht fortgesetzt wird. Funktionelle Störungen treten jedoch auf, wenn ein schädigendes Verhalten über längere Zeit beibehalten wird – was auch für sogenannt seelische Einstellungen oder Konflikte gilt, für die keine Lösung gefunden wird.

Um begreiflich zu machen, wie denn ein Gespräch zwischen TherapeutIn und PatientIn möglich werden kann, greift Kämmerer auf Hans Georg Gadamers Werk Wahrheit und Methode zurück. Das Zitat ist so eindrücklich und bedeutsam, dass es hier in voller Länge wiedergegeben werden soll:

»“Wir sagen zwar, daß wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Gesprächspartners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im Allgemeinen richtiger zu sagen, daß wir uns in ein Gespräch verwickeln. • Was bei einem Gespräch ‚herauskommt‘, weiß keiner vorher. Die Verständigung oder ihr Misslingen ist wie ein Geschehen, das sich an uns vollzogen hat. So können wir dann sagen, daß etwas ein gutes Gespräch war, oder auch, daß es unter keinem günstigen Stern stand. All das bekundet, daß das Gespräch seinen eigenen Geist hat, und daß die Sprache, die in ihm geführt wird, ihre eigene Wahrheit in sich trägt, d.h. etwas ‚entbirgt‘ und heraustreten läßt, was fortan ist“. (S. 387)« (S. 48).

Auch wenn Kämmerer sprachlich nicht immer den Dualismus überwindet, so macht er doch deutlich, daß es nie um bloße körperliche Prozesse geht, sondern dass im Leibgedächtnis die persönlichen Erfahrungen des konkreten Menschen gespeichert sind. Sie entbergen sich nur in der berührenden Begegnung, die wiederum nicht ‚gemacht‘ werden kann, sondern sich im »Dazwischen« ereignet. Gleichwohl berührt er anscheinend nicht faktisch, sondern ‚nur‘ mit Worten, wenngleich er nicht immer die klassische Trennung zwischen physisch-leiblicher Untersuchung – die ja notwendig ist – und psychotherapeutischem Gespräch beibehält. Wichtig ist ihm das sogenannte Mentalisieren, also das Benennen des den Patienten beängstigenden physisch-leiblichen Geschehens. Er vergleicht es mit dem »Elternsprachlichen Benennen«, das bei physisch-leiblich Sprechenden in ihrer Geschichte nie stattgefunden hat, ihnen diese symbolisierende Ebene nicht zur Verfügung steht.

Nun ist ja in Kliniken immer das Problem, dass die PatientInnen nur für eine beschränkte Zeit sich dort aufhalten. Daher hat Kämmerer methodisch die analytische Fokaltherapie eingesetzt. Dabei beruft er sich auf Balint, der metaphorisch davon sprach, dass der Lebensfluss vieler PatientInnen durch einen quer liegenden Baum im Fluss blockiert sei. Kann die Blockade aufgelöst werden, fließt das Leben des Betroffenen wieder frei. Nicht immer muss eine umfangreiche Therapie durchgeführt werden. Bei entsprechender Indikation und motivationaler Voraussetzung der PatientInnen kann der Konflikt fokussiert werden und in einem Text festgehalten, der den PatientInnen vorgelesen wird. Dabei umfasst der »psychosomatische Fokus ϖ das Leit-Symptom, ϖ den primär aus der Szene empathisch erschlossenen unaussprechlichen Affekt, ϖ die dazu gehörenden unerträglichen Beziehungserfahrungen (Konflikt) und ϖ eine Perspektive, wie es „besser“ gehen könnte« (S. 77). Dieser Fokus wird zusammen mit derm PatientIn und dem Team erarbeitet. Alle aus dem Team haben ihn immer schriftlich bei sich, dier PatientIn erhält ihn nicht schriftlich, kann ihn aber jederzeit beim Team wieder abfragen. Gibt es eine Resonanz in derm PatientIn, wird mit dem Fokus weiter gearbeitet, ansonsten wird er abgewandelt. Derie PatientIn soll den Fokus auch nicht aufschreiben, wird sich aber immer wieder damit befassen, ihn als eine Art Affirmation in sich tragen.

Katamnestisch werden die PatientInnen drei und fünf Jahre nach dem Klinikaufenthalt zum Status befragt. Der Rücklauf war nicht so groß (20-30 %), so dass sich keine allgemein gültigen Aussagen ableiten lassen. Die PatientInnen, die ambulant weiter in Behandlung waren oder die sehr aktiv mit ihrem Fokus umgingen, also tatsächlich etwas in ihrem Umfeld und/oder ihren Beziehungen veränderten, profitierten am meisten von der Behandlung. Das wundert nicht; sich ändern ist schwer. Diejenigen, die aktiv mit ihrem Fokus weiter arbeiteten, konnten schöne Wandlungsschritte vornehmen. Der Fokus einer Patientin mit Angst vor dem Erbrechen sah dann folgendermaßen aus:

»Mein Schwindel und meine Angst umzukippen, zeigen mir meine Wut und Enttäuschung, wenn ich nicht richtig gesehen werde und nicht geschieht, was ich möchte, meine unterschiedlichen Körperreaktionen zeigen mir meine unterschiedlichen Gefühle, bis ich wage, trotz Angst, offen und klar für meine Wünsche einzutreten und meinen Weg als 24-jährige Frau, die ich bin, zu gehen« (S. 87).

Das Spüren und Wahrnehmen der physisch-leiblichen Reaktionen wurde für diese Patientin zu einem Hinweisreiz, Situationen und Szenen in ihrem Leben genauer zu betrachten und unter Wahrung eigener Wünsche und Bedürfnisse aktiv zu gestalten.

»Der psychotherapeutische Prozess entwickelt sich nicht geradlinig linear, sondern so sprunghaft wie alle Phänomene des Lebens. Das erschwert eine medizinische Praxis, die sich kausalen Gesetzmäßigkeiten verpflichtet weiß. Die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit wurde mit der Relativitätstheorie und der Heisenbergschen Unschärferelation zur Suche nach Wirklichkeit. Wirklich ist, was einwirkt, einwirkt immer in beiden Richtungen: auf etwas oder einen anderen und von diesem zurück auf den, von dem es ausging« (S. 113).

Sich auf wirkliche Begegnung einlassen, sich verstricken, in Beziehung gehen und die Position des Besserwissens verlassen: das widerspricht eine technizistischen Medizin, wie sie heute fast überall gang und gäbe ist. „Psychosomatisch“ interessierten MedizinerInnen ist dieses Buch wärmstens zu empfehlen.

Bernd Kuck      
August 2023

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Auf der Suche nach dem Wort, das berührt

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