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Jahrbuch für Verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse, Band 8/9, 1988/89, Literaturpsychologie, Berlin 1989, 225 Seiten.


Der Frage, was den Künstler zum Künstler macht, ist von psychoanalytischer Seite schon oft nachgegangen worden. Allzuoft versinken solche Untersuchungen jedoch in der Pathologie, suchen das Wesen des Künstlers auf ein "Nichts-als" zu reduzieren.
Im vorliegenden "Jahrbuch" finden wir Essays von J. Rattner zur Literaturpsychologie, die der Künstlerschaft nachspüren. Dabei ist der Blickwinkel erfreulich verändert, denn der Autor sucht nicht allein die Pathologie auf, sondern fragt nach Bestätigungen oder Widerlegungen moderner tiefenpsychologischer Erkenntnisse. Im folgenden wollen wir den einen oder anderen Aspekt aus der kurzweilig vorgetragenen Gedankenfülle herausheben.
Wir übergehen, mehr aus Platzmangel denn aus Abneigung, die beiden ersten Essays: "Nestroys Komödien" und "Heinrich Heine oder ein Sänger der Freiheit", zu denen der Autor selbst sich aus "Freude am Humor und an der geistig-politischen Unabhängigkeit"(7) bekennt. Zwar gerät auch Heine unter "Neurosenverdacht", jedoch liegt das Gewicht der Arbeit eher auf den gesunden Anteilen seiner Person, die der Autor in der "gewaltigen geistigen Arbeitskraft", seiner intellektuellen "Liebes- und Begeisterungsfähigkeit" ebenso sucht, wie in Heines "hochkarätigen Individualität", die ihn als Einzelnen in seiner Epoche sieht, der den "Mut zu eigenen Meinungen, Gesinnungen und Lebensanschauungen hatte". (53f)
Anhand von Gontscharows "Oblomow" legt uns der Autor eine "Ontologie der Bequemlichkeit" vor, die seines gleichen sucht. Bekanntlich hat Harald Schultz-Hencke das Begriffspaar der "Bequemlichkeit und Riesenerwartung" als Kurzcharakteristik des Neurotikers eingeführt. Auch hat er deutlich gemacht, daß die Neurose eines Menschen nicht nur in der Geschichte des Betreffenden wurzelt, sondern wie die Luftwurzeln den Tropenbaum versorgen, wenn die Wurzeln schon gekappt sind, die Neurose immer wieder durch z.T. selbstgeschaffene Lebensverhältnisse und geistigen Überbau Nahrung erhält. Genau diesen Aspekt verstand Gontscharow darzustellen und Rattner arbeitet diese Zusammenhänge in einer atemberaubenden Prägnanz heraus. Jedes Detail, von Kleidung über Wohnungseinrichtung, menschlichem Umgang bis hinein in die feinsten Gedankenverästelungen, zeigt die Welt des bequemen Menschen.
Von anderer Art ist "Thomas Mann - Versuch einer Pathographie". Zunächst stellt sich Rattner die Aufgabe, das Werk des Autors nicht nur auf seine Sexualgeschichte zu reduzieren, sondern die Sexualität als eine unter anderen Gesichtspunkten im Gesamt der Persönlichkeit zu betrachten. Er strebt eine Persönlichkeitsanalyse an, die "Trieb, Gefühl, Sozialverhalten und Geist eines Menschen in ihrem inneren Zusammenhang zeigt" (121). Persönlichkeit, Werk und Weltanschauung sind Rattner Ausdruck des "Lebensstils" (A.Adler) einer schöpferischen Individualität. Diese "übergreifende Stileinheit" wird in allen Lebensäußerungen des Menschen aufzudecken und zu belegen gesucht, worin die eigentliche "Kunst der Interpretation" gesehen wird.
Rattner folgt einer phänomenologisch-hermeneutischen Methode, wobei er sich von der Lebensgeschichte, den "Tagebüchern", den Werken, aber auch von Manns politischen Stelllungsnahmen, anmuten läßt. Auf dem Hintergrund des psychologischen Erfahrungswissens treten dabei "merkwürdige Charakterkonstanten" des Dichters zutage, die einen Leitfaden für die "Stilanalyse" abgeben. Drei Komponenten drängten sich auf: "...eine pervertierte Sexualität, eine Tendenz zum Sadomasochismus und eine dominierende Neigung zur stilisierten Selbstdarstellung" [Hervorhebung im Original]. Damit ist natürlich die Individualität Manns nicht erschöpfend beschrieben. Rattner läßt auch keinen Zweifel daran, daß er weder die "Kulturmächtigkeit" des Mannschen Werkes schmälern will, noch die gesunden Elemente verkennt, die in ihm enthalten sind. Jedoch sieht er die Aufgabe der Psychologie u.a. darin, einen gewissen Realismus in der Beurteilung "großer Menschen" walten zu lassen. "Die Menschen neigen überall dazu, sich "Führer" zu suchen.
In "Kafka und das Vaterproblem" legt Rattner eine Untersuchung der problematischen Vater-Sohn-Beziehung vor. Er deutet die schöpferische Leistung Kafkas u.a. aus seiner bedrängten Lage einem als übermächtig erlebten Vater gegenüber. Er erhebt sich aus den Niederungen einer erdrückenden Vaterautorität in die vertikale Sphäre des Geistes, weil ihm der Weg in der Horizontalen, "nach vorne" versperrt ist. Dabei handle es sich nicht um eine "Sublimierung", um Umwandlung des Sexualtriebes in Phantasieren, sondern um eine "eigenständige psychische Aktivität". Zu dieser Sphäre hatte Kafkas Vater keinen Zugang.
Neben der Stileinheit von Werk und Mensch, die Rattner souverän herauszuschälen weiß, erfahren wir, quasi nebenbei, Wesentliches über die Welt des Kindes, das Wesen der Sprechhemmung, die verheerende Wirkung von Drohungen und Ironie. Auch nutzt es dem Kind wenig, wenn der Erzieher seine Handlungen als Liebe und Sorge um die Entwicklung des Kindes ausgibt. "Das Kind ist Realist: die Deduktionen der Wissenschaft sind ihm unbekannt, Güte ist Güte, und Erniedrigung und Einschüchterung nichts anderes als eine eigentümliche Reaktion der Umwelt, die seinen Lebensgeist lähmt und das Antlitz der Welt zu einer erschreckenden, furchteinflößenden Maske erstarren läßt" (183).
Der Band schließt mit einem "Hinweis auf Marie von Ebner-Eschenbach", der leider etwas kurz ausgefallen ist. Immerhin begegnet uns hier eine Frau des 19.Jahrhunderts (1830-1916), die um Mitleid für die Benachteiligten wirbt, worin sich teilweise eine scharfe Sozialkritik kundtut.
Im ganzen ein Buch, daß dem Leser gedankenreich und immer kurzweilig den menschlichen Dichter vor Augen führt, der, jenseits allen Geraunes über das schöpferische Geheimnis, Teil "der leidenden und strebenden Menschheit" ist, "der wir alle ohne Ausnahme angehören".

Dipl.-Psych. B.Kuck

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