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Ibsen- Handbuch - von Björn Hemmer, aus dem Norwegischen übersetzt von Sylvia Kall, erschienen bei Wilhelm Fink, München, 2009.


Der emeritierte Professor für nordische Literatur, Björn Hemmer, Jahrgang 1939, liefert mit diesem Ibsen-Handbuch einen gewichtigen Beitrag zum Verständnis Ibsens (1828-1906), des großen europäischen Dramatikers aus Norwegen. Er hatte 1970 über den frühen Ibsen promoviert und drei Jahre später eine Studie über Ibsens romantische Phase vorgelegt.
In den letzten zehn, fünfzehn Jahren kam es weltweit zu einer verstärkten Ibsen-Forschung, zu der Hemmer 2003 eine umfassende Interpretation des Gesamtwerkes Ibsens beisteuerte, die jetzt auch auf deutsch vorliegt.

Das Buch verfolgt die dichterische Entwicklung Henrik Ibsens und gleicht daher mehr einer inneren Biographie als einer üblichen Lebensbeschreibung, obwohl auch diese nicht zu kurz gekommen ist. Diese Intention des Autors kommt gut im norwegischen Originaltitel Kunstnerens vei, (Der Weg des Künstlers) zum Ausdruck. Die Vorgehensweise erinnert an das Ibsen-Buch des bedeutenden europäischen Kulturkritikers aus Dänemark, Georg Brandes (1842-1927), der vor neunzig Jahren in einem schmalen Bändchen die innere Entwicklung Ibsens anhand seiner Werke nachzeichnete. Brandes orientierte sich wie auch Hemmer an Ibsens Auffassung, man müsse alle seine Dramen gelesen haben, um jedes einzelne Drama angemessen verstehen zu können. Ibsen hatte im Vorwort seiner Gesamtausgabe von 1898 geschrieben, seine Stücke sollten in chronologischer Reihenfolge, beginnend mit Catilina, gelesen werden; denn sie seien ein streng miteinander verbundenes Ganzes.
Auch darauf hatte Ibsen großen Wert gelegt, dass man seine Dramen las, bevor man sie auf der Bühne erlebte. Seine Befürchtung war, dass die Regisseure seine Intentionen verfälschten, was vermutlich nicht selten geschehen ist.
Hemmer wird beim Schreiben des Buches nicht unbedingt Literaturwissenschaftler vor Augen gehabt haben, sondern eher Ibsen-Freunde, die den großen Dramatiker schätzen, aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht sein gesamtes Werk lesen können oder wollen und die dennoch der Idee des erwähnten Gesamtzusammenhanges folgen möchten.

Diese Aufgabe hat Hemmer eindrucksvoll gelöst. Auf knapp 600 Seiten liefert er die bis heute umfassendste Interpretation des Gesamtwerkes Ibsens. Er analysiert jedes einzelne der großen Dramen und zeichnet den Weg nach, den Ibsen als Autor gegangen ist. Dabei ist er sich bewusst, dass jede Interpretation eine Verflachung des künstlerischen Werkes ist, die eigenes Lesen zwar nicht ersetzt, aber unterstützt. Jedes Kapitel kann als selbständige Einheit gelesen werden. Der Stil Hemmers ist eingängig und verzichtet weitgehend auf die Fachterminologie.
Er vertritt die Auffassung, Ibsens Werke seien insofern existentiell, als das Leben seiner Figuren eng mit den Ideen, Ansichten und sozialen Gegebenheiten ihrer Zeit verbunden sei. Ibsens Genialität zeige sich besonders dort, wo er psychologische, weltanschauliche und soziale Perspektiven miteinander verbinden kann, wie in Gespenster, Wildente, Hedda Gabler und Rosmersholm.
Hemmer verdeutlicht, dass Kreativität viele der Figuren Ibsens kennzeichnet. Zwar sind sie nicht alle Künstler, aber sie sind Gestalter ihrer Beziehung zur Realität. Gemeinsam sei ihnen auch die Leere und Sinnlosigkeit ihrer Existenz. Wie kein anderer vitalisierte und bereicherte Ibsen das europäische Drama mit ethischem Gewicht, psychologischem Tiefblick und sozialem Gespür, was dem Theater nach Shakespeare oft fehlte.
Ibsens realistisches zeitgenössisches Drama, so Hemmer, setze die europäische Tradition des Trauerspiels fort. Er porträtierte die Bürgerschicht seiner Zeit, Menschen, deren Alltag plötzlich zerbrach, als ihr Leben sie mit einer tiefen Krise konfrontierte. Blind waren sie dem Lebensweg in die Katastrophe gefolgt, für die sie selbst verantwortlich waren. Erst der Rückblick auf ihr Leben zwang sie, sich mit ihrem Selbst zu konfrontieren.

Ein tragisches Lebensgefühl ist für Ibsens Dramen charakteristisch. Etwas Wesentliches scheint im Leben seiner Personen zu fehlen, und irgendwie leben sie weiter, obwohl sie sich fast wie tot fühlen. Seine Protagonisten streben nach einem Ziel, doch ihr Kampf endet in Einsamkeit und Kälte, wenn es auch Alternativen in Form von menschlicher Wärme und Kontakt gegeben hätte. Beide Möglichkeiten - Alleinsein oder Verbundenheit - scheinen richtig zu sein, nur sieht und akzeptiert das Individuum die Konsequenzen seiner Entscheidung nicht.
Damit berührt Hemmer eine zentrale Bemühung in Ibsens Leben und Werk, nämlich sein Streben nach Selbstrealisation oder Selbstverwirklichung. Es war die Tragödie Peer Gynts, darauf zu kommen, dass er kein Selbst hat. Dass Menschen eigentlich anders leben wollen, als sie tatsächlich leben, führt zu einem Gefühl der Verzweiflung, das man aus Ibsens Dramen herausspürt. Dieser Gegensatz zwischen dem, was Menschen erreichen können und dem, was sie erreichen wollen, ist der tragische und manchmal auch komische Aspekt in ihrem Leben. Das meiste, was Ibsen schrieb, drehte sich um den Widerspruch zwischen Fähigkeit und Absicht, zwischen Wollen und Möglichkeit. Das ist ein Konflikt, von dem sowohl die Tragödien oder Komödien der Menschheit als auch des Einzelnen handeln.
Immer wieder geschieht es in Ibsens Dramen, dass die so unerschütterlich erscheinende bürgerliche Welt bedroht wird und aufbricht. Die Personen erleben eine Welt in Bewegung, und ihre bisherigen Werte und Konzepte gelten nicht mehr. Die Bewegung erschüttert das individuelle Leben und gefährdet die soziale Ordnung. Ibsen macht klar, was das menschliche Leben bedroht und was es lebenswert macht, welche Werte Menschen vertreten und wie sie das Leben verstehen. Aber Ibsen analysiert nicht. Er beschränkt sich darauf, Fragen zu stellen. Doch die Radikalität seines Fragens lässt Auswege aus den Krisen erahnen.

Hemmer fragt, ob Ibsen, ein typischer Vertreter des europäischen Bürgertums des 19. Jahrhunderts, noch ein Dichter für unsere Zeit ist. Seine Antwort ist positiv. Auch heute noch müssen wir uns mit Doppelmoral und bürgerlicher Fassade auseinandersetzen. Auch uns bleibt der Kampf zwischen Tradition und Erneuerung, zwischen alter, gesicherter Überzeugung und neuen Erkenntnissen nicht erspart. Unsere Medien sind voll von Berichten über Dinge, die Institutionen und Privatleute verborgen halten wollen, weil sie das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Auch wir stehen vor der Aufgabe, Verantwortung für das eigene Selbst zu übernehmen. Wie dem sein Leben bilanzierenden Peer Gynt droht uns die Erkenntnis, ein Niemand zu sein und kein Selbst zu haben.
Hemmer macht in seinem Buch deutlich, dass Ibsen nicht nur der Entlarver war, der die dunklen Seiten der Menschen porträtierte. Ibsen liebte auch die Menschen und ihre Fähigkeit zu Wachstum und Veränderung, wobei er nicht übersah, dass sie ihre reichen Möglichkeiten oft verspielen.

Abschließend fasst er Ibsens Haltung mit einem Gedanken Pascals zusammen:

Gefährlich ist es, wenn man den Menschen zu sehr darauf hinweist, dass er den Tieren gleicht, ohne ihm zugleich seine Größe vor Augen zu führen. Noch gefährlicher ist, wenn man ihm seine Größe ohne seine Niedrigkeit vor Augen führt. Am gefährlichsten ist es, ihn in Unkenntnis über beides zu lassen. Aber sehr nützlich ist, ihm das eine und das andere darzustellen.

Hemmers Buch kann jedem empfohlen werden, der sein Verständnis des tiefgründigen Dichters vertiefen oder der sich erst einmal mit der Welt Ibsens, seinem Leben, seiner Entwicklung und seinem Denken vertraut machen will.

Klaus Hölzer
19.4.2010
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