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Haslinger, Bernhard/ Janta, Berndhard (Hg.): Der unbewusste Mensch. Zwischen Psychoanalyse und neurobiologischer Evidenz. Psychosozial-Verlag, 131 Seiten


Am dritten Adventssonntag 2017 trafen sich renommierte Forscher und Theoretiker zum interdisziplinären Austausch in der Charité in Berlin. Der Advent wird in der christlichen Mythologie als Ankunft des Herrn (eigentlich adventus domini) gefeiert. Hier nun die Ankunft des Austausches zwischen Psychoanalyse (Werner Bohleber), Hirnforschung (Gerhard Roth), Psychiatrie (Andreas Heinzen) und Neurowissenschaft (Eric Kandel). Die Genannten hielten die Hauptreferate, die im vorliegenden Band zum Abdruck kommen. Die Diskussion war bislang stark von Gegensätzen und Abgrenzungen geprägt, indes hier die Verbindungslinie betont werden, die zu wechselseitiger Befruchtung beitragen. So diskutiert Roth zum Beispiel die Verbindungen zwischen dem Freudschen topischen Modell (Bewusstsein, Vorbewusstes, Unbewusstes) und zeigt auf, wo sich Übereinstimmungen finden lassen. Dabei ist inzwischen unstrittig, dass der Anteil des Unbewussten hinsichtlich des Einflusses auf unser Leben den Löwenanteil ausmacht und wir nur relativ wenig davon ins Bewusstsein heben können. Inhalte des Vorbewussten zeichnen sich dadurch aus, dass sie bewusst (gemacht) werden können. Neurobiologisch handelt es sich um nicht bewusste Inhalte des explizit deklarativen Gedächtnisses. Roth unterscheidet dabei noch ein »tiefes Vorbewusstes«, »dessen Inhalte aufgrund mangelnder Verankerung« im explizit deklarativen Gedächtnis oder aufgrund von »Verdrängung nicht selbst erinnert, aber gegebenenfalls mit fremder Hilfe bewusst gemacht werden können« (27). Zum Unbewussten zählt Roth alle »subkortikalen und primären sensorischen und motorischen kortikalen Prozesse«, die er zum »primären Unbewussten« rechnet. Die Prozesse während der infantilen Amnesie zählt er zum „sekundären Unbewussten“ deren Inhalte »prinzipiell nicht bewusst gemacht werden können« (ebd.), da zu diesem Zeitpunkt noch kein explizit deklaratives Langzeitgedächtnis existiert. Dies wird im Hippocampus (Gyrus dentatus) verortet, der erst nach zwei bis drei Jahren ausgereift ist. Hier bleibt unerörtert, wie es sich dann mit Erfahrungsinhalten verhält, die gleichwohl im Leibgedächtnis niedergelegt sind. Aus der Perspektive der leibfundiert arbeitenden Psychoanalyse sind hier nämlich sehr wohl Zugänge möglich, jedoch nicht über kognitive Ansätze, weil darüber zunächst nicht zu reden ist, sondern gespürt werden muss, ehe überhaupt die Möglichkeit der sprachlichen Symbolisierung besteht. Gleichwohl weist Roth auf die schädigenden Einflüsse einer hochgradig gestressten Mutter auf den reifenden Embryo hin und den daraus resultierenden strukturellen Störungen. Interessant der Hinweis, dass die Amygdala, wie lange angenommen, nicht nur bei der Verarbeitung von Furchtreizen eine Rolle spielt, sondern durchaus auch bei positiven, überraschenden Ereignissen aktiviert ist. Sie ist also nicht nur der physiologische Ort der Gefahrensignalisierung! Dies macht deutlich, dass neuronale Netze viel komplexer sind, als sich so mache vorstellen.

Für das Phänomen, dass sich Gewohnheiten nur schwer verändern lassen, was auch für pathologische Beziehungs- und Bindungsmuster gilt, findet sich ein neurobiologischer Beleg: Netzstrukturen, die aus für den Organismus einmal existenziell bedrohlichen Erfahrungen hervorgingen, lassen sich nicht löschen (hier muss die Verhaltenstherapie ihre Theorie überarbeiten). Bestenfalls können sie durch »Überlernen« ergänzt werden. Das ist für die traumatherapeutische Arbeit von höchster Relevanz.

Andreas Heinz kritisiert die evolutionär verkleideten Theorien, wie sie immer noch in psychiatrisch, biologistischen Ansätzen vorkommen. Die Parallelisierung hierachischer Strukturen in Gesellschaftssystemen mit Hirnstrukturen, darf als Irrweg angesehen werden. Ebenso problematisch sieht Heinz die konkretistischen Fehldeutungen menschlichen Seins, die durchaus »politische Wirkmächtigkeit« entfalten können, »aus den neurowissenschaftlichen Befunden selbst in keiner Weise abgeleitet werden« können (67).

»Wird psychotisches Erleben als Oszillation zwischen spezifisch menschlichen Erfahrungspolen verstanden, dann charakterisiert es Zugangsweisen zur Welterfahrung, die eben gerade nicht „primitiv“, „irrational“ oder unverständlich sind, sondern als „Ringen um Selbstverständlichkeit“ angesichts außergewöhnlicher Erlebnisse verstanden und anerkannt werden können« (69 f).

Werner Bohleber (ebenso wie Marianne Leuzinger-Bohleber) hat den Dialog mit der Neurobiologie schon früher gesucht. Er weist darauf hin, dass Freud den Primärprozess auf Träume und Phantasien beschränkte, indes heute dem primärprozesshaften Denken mehr Bedeutung für das Wachbewusstsein eingeräumt wird. Der Primärprozess ist evolutionär betrachtet älter als die Sekundärprozesse eines stringenten und logischen Gedankenganges. Primärprozesse zielen auf adaptive Überlebensstrategien. Ihr »Ziel ist Gefahr und Schmerz zu vermeiden und nicht so sehr, Lust zu suchen« (79).
Konsens ist inzwischen, dass Freuds Urverdrängung dem implizit-prozeduralen Gedächtnissystem zuzuordnen ist. Freud hingegen kannte nur eine Gedächtnisstruktur. Eine Differenzierung in ein implizit-prozedurales und ein explizit-deklaratives Gedächtnis wurde erst 1980 von Davis eingeführt (Kandel (106) schreibt dies allerdings Brenda Milner et al. zu, die das explizite, deklarative Gedächtnis vom implizit non-deklarativen Gedächtnis schon 1957 unterschieden).

Hinsichtlich der kontrovers diskutierten Enactments in der Therapie weist Bohleber auf die Ergebnisse der „Boston Change Process Study-Group“ (Daniel Stern) hin, wonach diese nicht nur unbewusste Reaktionsmuster der Patienten*innen sind, auf die Therapeuten*innen reagieren, sondern dass sie eine emergente Eigenschaft der Dyade selbst sind.

Bei den Träumen geht es längst nicht mehr um eine Wunscherfüllung allein; vielmehr handelt es sich um eine Form des unbewussten Denkens, die der Problemlösung, »der Verarbeitung von Konflikten dient, neue Ideen schafft und seelisches Wachstum fördert« (90). Dies sind gleichwohl Aspekte, die schon früh in die Psychoanalyse Eingang fanden; etwa Träume unter einem prospektiven Blickwinkel zu interpretieren.

Eric Kandel, der für seine Arbeiten zu grundlegenden Erkenntnisse zur Arbeitsweise des Gedächtnisses den Nobelpreis erhielt, behandelt thematisch den Reduktionismus in der Kunst und der Hirnforschung. Während das explizite Gedächtnis im Cortex lokalisiert ist, unterhält das implizite Gedächtnis Verbindungen zu einer »Vielzahl anderer Hirnregionen« (116). Merkwürdigerweise beschränkt Kandel die Vernetzung offenbar immer noch auf die Gehirnstrukturen, indes immer deutlicher wird, dass die neuronale Vernetzung den gesamten Organismus betrifft, besonders gravierend etwa die Vernetzung mit dem Darm, von dem bereits als dem „zweiten Gehirn“ gesprochen wird.
Zentral in diesem Beitrag ist allerdings der Bezug zur abstrakten Kunst. Die Reduktion auf elementare Elemente, die Auflösung figuraler, gegenständlicher Darstellung in der abstrakten Kunst, verschafft den Betrachtern einen viel größeren Freiraum in ihren Assoziationen und sie haben stärkeren Bezug zu impliziten Gedächtnisinhalten. Gegenständliche Darstellungen reduzieren uns bei der Betrachtung eher auf assoziative Verbindungen zum expliziten Gedächtnis. In der abstrakten Kunst wird das primärprozesshafte Denken, die Sprach des Unbewussten, angeregt und herausgefordert (122).

Ein ausgesprochen anregender kleiner Band, der zum Beispiel als Einstieg in die Debatte um die wechselseitige Befruchtung der verschiedenen Wissensgebiete gelesen werden kann. Schade ist, dass die während der Tagung korrespondierende Musik nicht leicht zu finden ist. Im Vorwort heißt es, dass technische Probleme die Beilegung zum Buch verunmöglicht haben. Klare Links wären dabei wohl möglich gewesen (zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=OdibDKnp7Mc; https://www.youtube.com/watch?v=AVsqWiUop0U; https://www.youtube.com/watch?v=-yvcAFUmOJA;), im Buchtext aber kaum hilfreich, da sie furchtbar lang sein können und Abschreibfehler Legion. Sie hätten die Recherche für die interessierten Leser*innen nicht unbedingt erleichtert. Im Beitrag von Andreas Bräutigam wird auf die Musik eingegangen und den Schaffensprozess der Musiker, die meist ihre Gedanken und Gefühle aus dem Unbewussten tönen lassen. Auch deshalb spricht uns Musik mehr auf der Empfindungsebene an, die jenseits unserer hochgelobten elaborierten Sprache liegt.

Bernd Kuck      
Juni 2020

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Der unbewusste Mensch

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