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Harris, Frank: Oscar Wilde - eine Lebensbeichte. S. Fischer Verlag, Berlin 1925, 460 Seiten, gebunden


Wer Oscar Wildes Leben und vor allem sein tragisches Ende im Alter von gerade 46 Jahren betrachtet, wird die puritanische Welt und das Schicksal anklagen, die es scheinbar darauf angelegt hatten, einen zarten und feinsinnigen Dichter zu zerstören. Scheitere Wilde an den Spießern seiner Epoche, hatten die Puritaner und Sittenwächter ihn dazu auserkoren, an ihm ein Exempel ihrer restriktiven Moral zu statuieren? Triumphierte das Mittelmaß über ein Genie, das von den sexuellen Normen im Namen der Schönheit abwich und sich den Luxus der Dekadenz leistete? Oder war Wilde zum Teil nicht selbst Schuld an seinem Debakel?

Frank Harris, einflussreicher Londoner Publizist und vermögender Herausgeber der "Saturday Review", war Wildes Freund besonders in den zehn Jahren vor seinem Tod. Von ihm haben wir ein 1910 geschriebenes Buch, das Mitte der 20er Jahre ins Deutsche übersetzt wurde, welches ein lebendiges und notwendigerweise subjektives Bild von Wildes Leben und Persönlichkeit gerade vor und nach dem verhängnisvollen Prozess vermittelt. Schon Hugo von Hofmannsthal war 1905 der Meinung, dass Wilde auf seinen Niedergang zuschritt wie Ödipus auf das Bett seiner Mutter, teils sehend, teils blind.

Zu dem Zeitpunkt, als das Unheil seinen Lauf nahm, befand sich Wilde auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. "Dorian Grey" war ein Erfolg, ebenso seine Komödien, die ihn einen reichen Mann werden ließen, und die Gesellschaft lag dem Plauderer und Spötter zu Füßen. Rätselhaft bleibt letztlich, warum sich Wilde in den blasierten und charakterlich wenig gefestigten Lord Alfred Douglas verliebte. Douglas lag in Dauerfehde mit seinem Vater Queensberry, der den Umgang seines Sohnes mit Wilde aufs heftigste bekämpfte. Denn Queensberry war zu Ohren gekommen, dass Wilde intensiven Kontakt zu jungen Männern pflegte.

Queensberry beleidigte Wilde, indem er ihn einen Sodomiten nannte. (Queensberry hinterließ beim Portier des Albemarle Club, dem Wilde angehörte, eine Karte mit dem Satz: "To Oscar Wilde posing as a sodomite".) Douglas sah eine Chance, seinen Vater eins auszuwischen, indem Wilde die Gelegenheit nutze, gegen Queensberry zu klagen. Wilde konnte seinem affektgeladenen Freund die drängend vorgetragene Bitte nicht abschlagen; Wilde war der Kläger, Queensberry der Beklagte. Beide Parteien hatten hochkarätige Rechtsanwälte aufgeboten.

Queensberry hatte Spione ausgesandt und zahlreiche Jugendliche aufgetrieben, die Wilde teilweise auf der Straße aufgegabelt hatte, um sich an ihrem Körper und ihrem Gesichtsschnitt zu berauschen. Am dritten Verhandlungstag ging Sir Edward Clarke, Wildes Rechtsbeistand, entsetzt zu Wilde und riet ihm dringend, die Klage zurück zu ziehen; die Gegenseite sei drauf und dran, die Beleidigung substanziell zu untermauern und den Prozess zu gewinnen. Wilde willigte ein.

Nun lag aber das Beweismaterial bereits auf dem Tisch, der Staatsanwalt (in England: die Krone) musste die Sache, nach heutigem Sprachgebrauch "Unzucht mit Minderjährigen", als Offizialdelikt aufgreifen. Solange derartige Praktiken unter dem Tisch blieben, regte sich in England kaum jemand auf, doch nun war alles ans Tageslicht gezerrt worden. Aber selbst in solchen Fällen drückte die Polizei, wie Harris berichtet, ein Auge zu: Sie wartete mit der Verhaftung, bis am Abend der letzte Zug nach Dover abgefahren war, um dem beschuldigten die Flucht ins Ausland zu ermöglichen.

Wilde aber war wie gelähmt und unfähig, trotz Drängen seiner Freunde eine Entscheidung zu treffen. Er hätte handeln und sich damit - aus seiner Sicht - gegen Douglas stellen müssen. Wilde wurde verhaftet und alle Zeugen aus den vorangegangenen Tagen verhört. Eine Haftentlassung gegen Kaution wurde zunächst abgelehnt, später gegen die ungeheure Summe von 5000 Pfund gewährt.

Wildes Sanftmut, Güte und Liebenswürdigkeit hatten schon immer einen Zug ins Weiche und Schwache, was sich in diesen Tagen ins Ängstliche und Willenlose verlagerte. Er wartete starr vor Verzweiflung auf sein Ende, schreibt Harris, er wollte die Sache über sich ergehen lassen, einmal müsse sie ja ein Ende haben. "Macht mit mir was ihr wollt, aber macht es schnell." Gegen Kaution auf freien Fuß arrangierte Harris alles, um Wilde nach Frankreich zu locken. Hier aber zeigte Wilde den Mut der Unentschlossenen; er könne nicht seine Kautionsgeber enttäuschen (die über den Fluchtplan informiert waren), "ich kann meine Freunde nicht im Stich lassen." Wilde war niedergeschmettert, möglicherweise auch zutiefst gekränkt. Wie konnte eine Gesellschaft, die ihn kürzlich noch vergötterte, so schmählich behandeln?

Wilde hatte schon immer eine Scheu vor Kampf und Hader, er war keine Kämpfernatur, und es überwog der Zug seiner Liebenswürdigkeit, als er sich bereit erklärte, für Douglas gegen den kampfeslustigen, aufbrausenden, jähzornigen Queensberry (sein Sohn Alfred stand ihm in nichts nach) zu streiten. War Wilde Douglas hörig? Douglas war die treibende Kraft der Klage, doch nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche ließ sich Wilde von Douglas in den Konflikt treiben. Alles andere hätte einen Bruch mit seinen unverantwortlichen Freunden bedeutet. Auch Wilde hatte stets ziemlich unbesorgt in den Tag hineingelebt. Er war sich der Gefahr nicht bewusst, genauer gesagt, er ignorierte sie in kalter Überheblichkeit, ganz so, wie seine Freunde es taten.

Während der ersten Verhandlung tat Wilde die Gerüchte als Verleumdung ab, als harmlos, als geringfügig; sie, die Gerüchte wären ihm gleichgültig, ebenso wie er die zahlreichen Bestechungsversuche mit seinen Briefen nicht ernst nahm. Er leugnete die Realität. Wilde verachtete jeden Tadel seiner Person, er lehnte jeden Rat ab und strafte die öffentliche Meinung mit Nichtachtung. Mit dem Erfolg wurde er eingebildet und er wurde unwirsch, wenn Shakespeare als der größere Dichter bezeichnet wurde.

War er bereit, sich der übermäßig harten Strafe zu beugen, weil er sich insgeheim schuldig fühlte? In unveröffentlichten Teilen von "De Profundis" (eine Beichte, die er im Gefängnis schrieb), verwünschte er Douglas, den Mann, den er zu lieben vorgab.

Bemerkenswert ist, dass er seine Knabenliebe in den Schriften, die er im Gefängnis und kurz danach schrieb, nicht verteidigte. Er hat sein Tun nicht gerechtfertigt, er hielt sich nicht für einen Märtyrer. Hätte er es getan, dann hätte er seine Strafe als Bestätigung des von ihm als richtig erkannten Weges angenommen und nicht als grausame Marter beklagt, gibt Harris zu bedenken. Wildes Verteidigung blieb defensiv, er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und sein Schlendrianleben wieder aufnehmen. Er kämpfte nicht und stand nicht zu seiner Überzeugung, dass die Knabenliebe antiken Ursprungs die höchste aller Liebesformen sei. Vor Gericht beschönigte er, was er geschrieben hatte, und er bemühte sich, seine Laster wegzuerklären, statt sie als "richtig" zu bekräftigen.

Es gibt eine wichtige Stelle in den von Harris mitgeteilten Dialogen mit Wilde. Harris machte Wilde auf den eben genannten Umstand aufmerksam, dass er öffentlich nicht zu seiner Überzeugung stand, und Harris bringt ein bemerkenswertes Argument: Wenn er Homosexualität als höhere Form der Liebe und des Lebens betrachtet, müsste er diese auch den Frauen zugestehen. In diesem Moment, so Harris, drehte sich Wilde mit Widerwillen ab.

Diese Szene scheint mir zentral. Nein, den Lesben wollte er die Homosexualität nicht zuerkennen, schon gar nicht als höherwertiges Prinzip. Vielmehr war ihm dieser Gedanke ekelhaft. Wilde sah die Homosexualität nicht als verteidigungswert an, sondern als persönliche Vorliebe, als private Marotte, die bei ihm eine Art Sucht angenommen hatte, auf die er nicht verzichten wollte. Der Hinweis auf das "Symposion" von Platon war vielleicht doch nur Dekoration oder Selbstbestätigung, eine Selbstberuhigung, die ihn glauben ließ, in höheren Sphären zu schweben, wo es doch nur um die Befriedigung eines privaten, egoistischen und narzisstischen Lasters ging. Die Grundlage seiner sexuellen Neigung war nie wirkliches Verständnis oder inneres Bedürfnis, sondern Snobismus. Echte Liebe und Freundschaft waren ihm fremd, wenngleich er gegen Hilfsbedürftige großmütig und gegen alle Menschen, die ihn bewunderten und ihm Geld gaben, freundlich war.

Kurz nach Entlassung vollendete er die "Ballade vom Zuchthaus zu Reading", die in ihrem Mitleidsgestus zu den großen Stücken englischer Prosa gehört. Aber dann verstummte er. Warum? Er begründete sein Verstummen mit den fürchterlichen Erfahrungen im Gefängnis. Er könne einfach nichts mehr zustande bringen. Er übertrieb die Wirkung, die das Gefängnisleben auf seine Gesundheit ausgeübt hatte, um seine Untätigkeit zu entschuldigen.

Tatsächlich, vermute ich, wurde Wilde innerhalb von Wochen zur leeren Hülle, weil er zu schwach war, um sich der Sattheit und dem Wohlleben, dem er sich in London hingegeben hatte, zu entziehen. Er hatte Gönner, einschließlich Harris, die ihm goldene Brücken mit freizügig gewährtem Geld bauten, damit er sich wieder an den Schreibtisch setzen möge - vergeblich. Er bettelte unentwegt und erfolgreich um Geld und gab es bedenkenlos aus, weigerte sich aber beharrlich, irgendetwas zu arbeiten. Gleichzeitig bildete er sich ein, der bedeutendste Dichter der Welt zu sein, noch bedeutender als Shakespeare. Er trank sehr viel, bewegte sich praktisch überhaupt nicht mehr und wurde dick und aufgedunsen.

Douglas hatte Wilde ins Unglück gebracht, um seinen Vater zu ärgern, und das so blödsinnig angefangen, das er seinem Vater einen Triumph bereitete. Douglas konnte Wilde manipulieren, weil Wilde willensschwach und eingebildet war. Douglas vernichtete Wildes Ehe, sein Talent, seine Karriere, sein Einkommen und seine Selbstachtung. Als Wilde das erkannte, gab er sich innerlich auf.

Zieht man die Summe dessen, was Wilde so früh körperlich zu Grunde richtete, dann dies: die Härte des englischen Gefängnisses, Übergewicht, Alkohol, Tabak, Bewegungsarmut und - vermutlich - die Syphilis. Auf der seelischen Seite taten ihr zerstörerisches Werk Alfred Douglas, Wildes willensschwaches Genussmenschentum, sein Hochmut und seine Dickschädeligkeit. Doch besteht kein Zweifel, dass das Gute, das er getan und geschaffen hat, die Zeiten überlebt. 

Gerald Mackenthun
Berlin, April 2003


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