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Grunwald, Martin: Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer 2017


Es mehren sich die Hinweise, dass der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen größere Beachtung geschenkt werden sollte. Üblicherweise werden die Leistungen des Organismus etwa in Kognitions-, Gedächtnis- und Emotionsprozesse unterteilt, wobei die leibliche Basis, also der Gesamtorganismus, aus dem Blick gerät. In den sogenannten "Körperpsychotherapien" wird schon länger versucht, diese Isolierung aufzulösen. So gibt es inzwischen vielfältige Untersuchungen zu Stimme und Musik, wird die akustische Domäne immer besser als universelles Prinzip verstanden. Allerdings ist der Embryo bereits den Schwingungen des Leibes der Mutter ausgesetzt, ehe er noch ein soweit entwickeltes Gehör hat, um faktisch etwas zu hören. Und wir müssen konstatieren, dass der Gehör- und Gleichgewichtssinn nicht als erster reift, sondern es ist das Tastsinnessystem, dass etwa in der sechsten Schwangerschaftswoche (SSW) zu reifen beginnt.

»Embryos reagieren bereits ab der siebten Schwangerschaftswoche auf Berührungsreize an den Lippen mit einem Zurückweichen des Kopfes sowie ganzkörperlichem Zucken« (S. 22).

Natürlich handelt es sich hierbei nicht um willkürliche Akte, sondern um reflektorische Reaktionen der Motoneuronen, die bereits am 33. Tag im Rückenmark eines Embryos nachweisbar sind.

Kontakt ist anscheinend eines der zentralen Ereignisse in der Entwicklung von Organismen. Zellen haben bereits physischen Kontakt zu ihren Nachbarzellen und erhalten Einwirkungen aus allen anderen physischen Ereignissen wie Druck, Vibration, Wärme und Kälte. Grunwald spricht regelrecht von einem "Kontaktgesetz", das für Ein- und Mehrzeller notwendige Voraussetzung ist.

»Jedes biologische Lebenssystem – vom Einzeller bis hin zum Mehrzeller – verfügt über eine Kontaktsensibilität und -reaktibilität, weil es über diese grundlegenden biologischen Mechanismen verfügen muss« (S. 25).

Diese passive Berührungssensibilität wird sich bis zur 14. SSW auf alle Körperregionen ausdehnen und die so für taktile Reize empfänglich werden. Winzige Sensoren an Muskeln, Gelenken und Sehnenkapseln senden ständig, auch in Ruhe, elektrische Signale, wodurch der Organismus „in jeder Millisekunde über die Spannung seiner Muskeln und Sehnen, sowie die Stellung seiner Gelenke informiert“ (S. 27) wird.

Bereits in der zwölften SSW kann der Fötus einzelne Finger bewegen und die Hände öffnen und schließen. Zu der Zeit arbeitet noch kein anderes Sinnessystem! Ab der 15. SSW kann das vollständige Bewegungsrepertoire eines Fötus entwickelt sein. Dazu gehören bereits aktive Berührungen des Leibes, besonders des Gesichts. Zu diesem Zeitpunkt beginnen ebenfalls Saugbewegungen am Daumen, wozu der Fötus in der Lage sein muss, seinen Daumen zum Mund zu führen. Die Interpretation sollte jedoch nicht überzogen ausfallen, etwa wenn Maiello darin das Auffüllen der Lücke sieht, wenn die mütterliche Stimme schweigt, wie später der Daumen als Ersatz des lustvollen Saugens an der Mutterbrust genutzt wird (Schwalbe, 2022, S. 105). Manchmal ist es auch weniger psychologisch, schlicht das Training für das spätere Saugen an der Brustwarze, zumal dies zu einem Zeitpunkt beobachtet werden kann, zu dem das auditive System noch nicht hinreichend entwickelt ist.

Nicht nur Ernährung ist wichtig, sondern auch Stimulierung. Und da die weichen uteralen Kontaktreize nur eingeschränkt zur Hautreizung taugen, entwickelt sich just in dieser Zeit eine Ganzkörperbehaarung, von der lediglich die Innenflächen der Hände und die Fußsohlen ausgenommen sind.

Es wird vermutet, dass die Haarsensoren dieser Lanugohärchen Impulssalven in wichtige Hirnregionen senden (Hypothalamus, Inselkortex) und das parasympathische Nervensystem aktivieren.

Bislang ging mensch davon aus, dass es sich bei dieser Behaarung um ein Überbleibsel des Haarkleides unserer evolutionären Vorfahren handelt. Das ist jedoch unwahrscheinlich, da die Lanugohärchen sich ab der 33. SSW zurückbilden.

Wohl das wichtigste Faktum ist darin zu sehen, dass die anderen Sinnessysteme später reifen.


Entwicklung der Sinnessysteme während der Schwangerschaft

Die mütterliche Stimme sowie die Geräusche ihres Leibes können zur Zeit der Reifung des Tastsinnessystems noch nicht verarbeitet werden. Für das Hören sind die zuständigen Rezeptoren und neuronalen Systeme erst ab der 24. SSW genügend gereift. Die feinen Härchen des Innenohres haben anscheinend die feinen Härchen auf der Hautoberfläche zum Vorbild oder sind doch analog in ihrer Funktionsweise.

In einer Studie konnte nachgewiesen werden, das Selbstberührungen des Gesichts bei Föten überzufällig häufig mit der linken Hand ausgeführt werden. Das ist insofern bedeutsam, als die Hirnforschung die rechte Hemisphäre als den neuronalen Ort emotionaler Prozesse benannt hat.

»Jeder Erwachsene führt im Lauf eines Tages ca. 400 bis 800 derartige [gesichtsbezogene, BK] Selbstberührungen aus. Hinzu kommt eine Vielzahl von Selbstberührungen, die verschiedene andere Körperpartien betreffen und kein explizites Handlungsziel verfolgen« (S. 36).

Die Vielzahl der leiblichen Rezeptoren lassen sich als drei Grundbausteine des Tastsinnessystems betrachten: Interozeption, der Wahrnehmung des Allgemeinzustandes des Leibes; Exterozeption, die Wahrnehmung der Außenreize; Propriozeption, die Wahrnehmung der Lage und Bewegung des Leibes im Raum.

»Diese drei Grundbausteine des Tastsinnessystems sind nach meiner Auffassung für die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusstseins verantwortlich« (S. 44).

Die physische unmittelbare Nachbarschaft der uteralen Umgebung kann möglicherweise als ursprüngliche Erfahrung die Grundlage eines ersten internen Konzeptes von Nähe darstellen.

Wie wichtig der berührende Kontakt für die Entwicklung nicht nur des Menschen ist, zeigt sich etwa daran, dass Frühgeborene (ab der 25. SSW) sich am wohlsten beim ganzleiblichen Kontakt auf der menschlichen Haut fühlen, dass sie hingegen leichtes Streicheln eher als unangenehm empfinden und darauf aversiv reagieren.

»Ihre eigene Haut – die noch die Lanugobehaarung aufweist (!) - ist in diesem Reifungsstadium offensichtlich nicht für stärkere Reize ausgelegt, weshalb sie auf Berührungen mit eindeutigen Körper- und Gesichtsreaktionen antworten« (S. 49).

Die moderne Geburtsmedizin hat darauf reagiert und ermöglicht so früh es geht den ganzleiblichen Kontakt mit der Mutter anstelle des weiteren Aufenthaltes im Inkubator (umgangssprachlich: Brutkasten).

Vermutlich leistet dieser Kontakt einen entscheidenden Beitrag zum Überleben der Frühchen – wenn nicht sogar den entscheidenden Beitrag.

Für Säugetiere stellt Kontaktmangel einen erheblichen Stress dar, der vor allem die Wachstumsprozesse im Gehirn negativ beeinflusst.

Bei rumänischen Waisenkindern etwa, offenbarte die Untersuchung im MRT, dass der Hippocampus keine altersgerechte Größe aufweist (S. 61). Bei isolierten Tieren konnte nachgewiesen werden, dass sie sich fast so gut entwickeln wie die von der Mutter aufgezogenen, wenn sie häufiger als nötig von den Laborangestellten berührt wurden und Tiere, die regelmäßig mit einem Pinsel stimuliert wurden, entwickelten sich – soweit feststellbar – ebenso gut wie die bei ihren Müttern aufgewachsenen.

Dies sind alles Hinweise darauf, dass es ein ursprüngliches Berührungsbedürfnis gibt – so es nicht schon früh zu Schädigungen des Tastsinnessystems kommt. Ebenso muss von einem Nähe- und Kontaktbedürfnis ausgegangen werden, was eine frühe Fremdbetreuung mit einem Personalschlüssel unter eins zu zwei (also eine Betreuungsperson für zwei Kinder) ausschließt (S. 75).

Dass der Säugling schon kurz nach der Geburt seine Zunge herausstreckt, wenn dies die Betreuungsperson im Nahbereich tut, liegt vermutlich nicht an den gehypten Spiegelneuronen, sondern daran, dass »der Säugling das Bauprinzip seines Körpers und somit auch seines Mundes und seiner Zunge bereits als Fötus neuronal fest verankert hat«, somit »kann er die visuellen Informationen der Gesichtsveränderung beim Gegenüber als Aufforderung verstehen, den eigenen entsprechenden Körperteil zu verändern« (S. 81).

Unbedingt erwähnt werden muss, dass die Tastsinnesforschung der frühen Nutzung von Tabletts u. ä. eine klare Absage erteilt, da die Bewegungen der Finger und der Hand auf einer glatten Oberfläche die Möglichkeiten des leiblich und sinnlich Erfassbaren erheblich einschränken.

Welch ungeheure Bedeutung das Tastsinnessystem für die menschliche Entwicklung hat, lässt sich schon daran ermessen, wenn nur die Anzahl der tastsensiblen Rezeptoren mit denen anderer Sinnessystemen verglichen wird. Eine vorsichtige Schätzung ergibt ca. 710 Millionen, großzügige Schätzungen gehen sogar von nicht unwahrscheinlichen 900 Millionen Rezeptoren aus. Dagegen fällt die Anzahl der Rezeptoren in den anderen Sinnessystemen nahezu bescheiden aus:

Die Segnungen der bildgebenden Verfahren sind mit Vorsicht zu genießen (zahlreiche Vorannahmen, »hochkritische Vereinfachungen« (S. 128)), denn sie bilden die vielfältigen Hirngebiete nicht ab, die durch die Einzelimpulse der Rezeptoren mit involviert sind. Es ist davon auszugehen, dass neuronanle Gedächtnisspuren emotionaler Ereignisse infolge kurzer Berührungsreize entstehen. Das ist sehr bedeutsam für die schone lange bekannte Annahme der sogenannten "Körperpsychotherapie", wonach durch Aktivierung leiblicher Zonen Zugänge zu vorsprachlichen Erinnerungen möglich sind.

»Es muss an dieser Stelle betont werden, dass es im menschlichen Gehirn kein Spezialgebiet mit anatomisch territorialer Abgrenzung des Tastsinnessystems als Gesamtsystem gibt. An der Verarbeitung von Tastsinnesreizen sind fast alle Nervenzellen des Gehirns in irgendeiner Weise beteiligt« (S. 129).

Das macht wohl auch verständlich, wieso Selbstberührungen im Gesicht zu einer Beruhigung führen, die der Embryo ebenfalls ausführt, vermehrt dann, wenn etwa schädigende Substanzen oder sonstiger Stress der Mutter zum Stress des Embryos führen. Angemessene Berührungen des geborenen Menschen durch Mitmenschen reduzieren den Stress und intensive Berührungen (z. B. Massagen) stabilisieren das Immunsystem und entzündungshemmende Prozesse werden beschleunigt (S. 159).

Der Text enthält zahlreiche experimentelle Nachweise für Grunwalds Thesen. Besonders beeindruckend aber ist die Entdeckung, dass anorektische Patienten über ein eingeschränktes Tastsinnessystem verfügen, sie etwa die Struktur von Tiefenreliefen nicht zeichnerisch wiedergeben können. Die Körperschemastörung, die für anorektische Patienten typisch sind, lassen begreifen, wieso rein kognitiv orientierte Therapieverfahren keine dauerhaften Veränderungen bewirken. Grunwald und sein Team haben zur Diagnostik nicht nur Tiefenreliefs eingesetzt, sondern eigens ein »Haptimeter« entwickelt, mit dem die Körperschemastörung getestet werden kann.

»Dieser Test prüft im strengen Sinn sowohl propriozeptive wie auch exterozeptive und interozeptive Leistungen, denn es müssen aktive Lage- und Positionsanalysen der Gliedmaßen im Raum (= propriozeptiv) sowie haptisch-explorative Informationen (= exterozeptiv) verarbeitet werden und interne Vergleichsprozesse zwischen den Stellungs- und Bewegungsinformationen der beiden Arme (= interozeptiv) stattfinden« (S. 205).

Haptimeter

Gesunde Probanden meistern die Aufgabe mit einer Abweichung von null bis zwei Grad, indes bei anorektischen Patienten die Abweichung im Mittel signifikante sieben Grad beträgt!

Das Ergebnis verbessert sich bei anorektischen Patienten, wenn sie mittels eines maßgeschneiderten Neoprenanzugs und therapeutischer Unterstützung behandelt werden.

»Das Ziel therapeutischer Interventionen sollte es sein, dass die Patienten nicht nur einen kognitiven Zugang zum tatsächlichen Körper erarbeiten, sondern auch die Diskrepanz zwischen erlebtem und tatsächlichem Körper wirklich wahrnehmen. Nach dem, was wir bisher wissen, ist die körperliche Erfahrung im Rahmen körperorientierter Therapieverfahren der beste Weg, um sich diesem Ziel zu nähern« (S. 210).

Das sind recht viel versprechende Erfahrungen, die grundsätzlich den Ansatz einer leibfundierten Therapie unterstützen. Ein Video zu diesem speziellen Ansatz ist auf Youtube zu sehen.

https://www.youtube.com/watch?v=O2wEVHqqQLM

Und an der Charité in Berlin wird weiter mit diesem Ansatz gearbeitet und geforscht.

Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass sich Grunwald auch mit Haptik-Design befasst, da in unserer Augen-Kultur häufig mehr auf den äußeren Schein geachtet wird als darauf, wie Empfindungen bei Berührung von Gegenständen bewertet werden, was u. a. Kultur abhängig ist.

Ein sehr zu empfehlendes Buch, natürlich besonders für leibfundiert arbeitende Therapeut:innen der sogenannten Psychotherapie.

Bernd Kuck      
Dezember 2020

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Homo habpticus

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