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Dührsen, Annemarie: Ein Jahrhundert psychoanalytische Bewegung in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994


Annemarie Dührssen war wesentlich daran beteiligt, daß psychotherapeutische Leistungen in den Katalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wurden. Wesentlich trug dazu eine am „Zentralinstitut für psychogene Erkrankungen der Versicherungsanstalt Berlin“ durchgeführte katamnestische Untersuchung bei, in der die Effektivität psychoanalytischer Behandlungen gezeigt werden konnte.
Die Mitteilungen zum Erfolg ihrer Bemühungen und zu den zu überwindenden Schwierigkeiten scheinen fast den Anlaß abzugeben, wieso sich Dührssen mit dem „Jahrhundert psychoanalytischer Bewegung in Deutschland“ befaßt. Denn in ihrer Schilderung dominieren die Querelen unter den Psychoanalytikern und den diversen Vereinigungen im deutschsprachigen Raum. Sie versucht dem Grunde nach zu zeigen, daß sowohl machtpolitische also auch persönliche Engen wesentlich an der Verhinderung wissenschaftlichen Fortschritts beteiligt sind. So haben nicht nur die Neuerungen der frühen psychoanalytischen Dissidenten (Adler, Stekel, Jung, Ferenczi und Rank) inzwischen Eingang in die psychoanalytische Theorie und Behandlung gefunden, vielmehr tauchen sie als wunderbare Neufunde auf, an denen den Pionieren kein Anteil mehr zugebilligt wird. Besonders Adler, Ferenczi und Rank wurden - und werden - als Steinbrüche benutz. Ein krasses Beispiel aus den Anfängen der psychoanalytischen Bewegung schreibt Dührssen Anna Freud zu, die in ihrer Theorie von den Abwehrmechanismen die „Identifikation mit dem Aggressor“ bei Ferenczi abgekupfert habe und als eigene Entdeckung ausgab.

Dührssen vertritt die implizite Auffassung, daß auch in der Wissenschaft Dogmen entstehen können, die zum Glaubenskathechismus verkommen können. Das gilt natürlich noch für die heutige Zeit und kann als ein Grundübel der „vom Machtwahn zerfressenen Kultur“ (A. Adler) bezeichnet werden. Dann geht es sehr schnell nicht mehr um die Frage der Wissenschaftlichkeit einer Methode, sondern um Macht, Einfluß und Abschottung gegen den Zugriff anderer auf einen erschlossenen Brottopf. Übrigens waren es die „orthodoxen“ Psychoanalytiker der DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung, Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung), die seinerzeit heftig gegen die Aufnahme analytischer Psychotherapie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen votierten. Und heute sind es wiederum etablierte Psychoanalytiker, die sich gegen Öffnung der Kassenbehandlung durch nicht tiefenpsychologisch/analytisch ausgebildete Psychologen sträuben, wobei sie in alter Manier ihre Zuflucht zu diffamierenden Äußerungen nehmen, wonach diese nicht „richtig“ (weil nicht tiefenpsychologisch/analytisch, i.e. orthodox?) ausgebildet seien. Solche Platitüden dienen einzig der Propaganda, denn schlecht ausgebildete BehandlerInnen - oder gar AusbilderInnnen (s. z. B. Kaiser, Grenzverletzung) - finden sich überall. Das hat aber weniger mit der Methode zu tun als mit der Person. Und die ist nach wie vor der heilende Faktor in der psychotherapeutischen Kunst; erst dann folgen die Methoden. 

 Bernd Kuck   
Bonn, im Februar 2003

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Ein Jahrhundert psychoanalytische Bewegung in Deutschland

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