Châtelet, Noëlle:
Die letzte Lektion. Übersetzung aus dem Französischen
von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 160
Seiten
„'Am 17. Oktober ist es so weit.'
So hast du uns deinen Tod angekündigt, mit diesem einfachen
Satz, mit diesen sieben Worten.“ (7)
Ein ungeheuerlicher Anfang für ein Buch, das nicht von
Selbstmord handelt – 'Selbstmord', ein moralisch durchtränktes
Wort, das für den Akt, ein erfülltes Leben in Würde
beenden zu wollen, nicht passen will.
Das Buch ist am ehesten ein langer Brief an die verstorbene
Mutter, der die letzten drei Monate reflektiert und in dem Noëlle
Châtelet auch mitteilt, was sie der Mutter nicht gesagt hat.
Ein ungeheuerliches Buch – ungeheuerlich beeindruckend. Hier
wird eine Trennung, eine Ablösung, eine Trauerarbeit zu
Lebezeiten der Verstorbenen geschildert, die möglicherweise
Vorbilder in der Antike hat. Die jüngere, die Tochter der
92-jährigen Dame, erhält ihre letzte Lektion.
Die Beziehung zwischen Tochter und Mutter scheint eng, innig,
vielleicht symbiotisch gewesen zu sein, schon früh von der Angst
der Tochter mitbestimmt, ihre Mutter könnte sterben. Und nun
kündigt die Mutter ihr Todesdatum an. Die Tochter erhält
noch einmal Aufschub, kommt die Ankündigung doch etwas plötzlich
– wenngleich schon früher darüber gesprochen wurde.
„'Mama, ist es nicht seltsam, dass
eine Hebamme, die keine Mühe gescheut hat, um Kinder ins Leben
zu holen, sich selbst das Leben nehmen will?' Darauf hast du erwidert,
dass Leben und Tod untrennbar mit einander verbunden seien und man
beides, da es denselben Regeln der Natur gehorche, gemeinsam erlernen
könne und müsse.“ (81f)
Die Mutter war anscheinend unwissentlich Individualpsychologin,
lehrte doch Alfred Adler, dass der Mensch zu allen Lebensphasen eine
Antwort finden müsse, dass er aber auch alles erlernen könne
und müsse. Und war nicht Sokrates' Mutter Hebamme? Und hat
Sokrates nicht eine 'schlechte' Verteidigungsrede gehalten, weil er
den Schierlingsbecher trinken wollte, weil er, wegen der
Gebrechlichkeit seines Körpers lebensmüde war und in Würde
sterben wollte?
Es wird nicht erwähnt, warum Noëlle Châtelet in
ein Internat gegeben wurde, nur, dass die Mutter ebenfalls darunter
gelitten habe. War diese Erfahrung traumatisch durch die Verbindung
der kindlichen Logik, die den frühen Verlust der Mutter mit der
Angst vor deren Tod, dem Bewusstsein, „sie muss eines Tages
sterben“ (116) gleichsetzte? Der Vater stand schließlich
einem Erziehungsheim vor, einer Schar von Kindern, die keine Eltern
mehr hatten.
Die dreimonatige, gleichsam zu Lebzeiten aktiv gelebte,
Trennungsphase und das Jahr der schriftlichen Aufarbeitung wurden zur
Lehrzeit, wie der Mensch sein Leben und Sterben selbstbestimmt leben
kann und wie der Prozess des bewussten Abschieds und der Trauer
selbst alte Wunden heilen kann.
„Ich dachte: Zu anderen Zeiten, in
einer Gesellschaft, die die Größe besitzt, anders mit dem
Tod umzugehen, hätte ich bei dir sein können, wirklich an
deiner Seite, nicht nur in Gedanken. Ich hätte deine Hand
gehalten und dir einen Abschiedskuss auf die Stirn gedrückt...“
(151)
Bernd Kuck, Bonn
Januar
2007
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