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Charim, Isolde: Die Qualen des Narzissmus. Die freiwillige Unterwerfung. Zsolnay 2022


Im 16. Jahrhundert verfasste La Boétie seine »Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft«. Er war noch der Auffassung, dass es reichen würde, dem Tyrannen einfach die Gefolgschaft zu verweigern. Und wie später die Aufklärung wird und wurde unterschätzt, dass allein eine bewusste Entscheidung, eine Erweiterung des bewussten Denkens nicht hinreicht. Erst seit Freud und der Psychoanalyse verstehen wir die Bedeutung innerseelischer konflikthafter Abhängigkeiten. Freud sah in der Projektion der Über-Ich Inhalte und deren Delegation an einen Führer die Entlastung des Gruppen- oder Massenmenschen von der Last und der Verantwortung des eigenen Gewissens. Charim postuliert nun, dass es heute nicht mehr um Über-Ich Entlastung, sondern um Entlastung vom Ich-Ideal geht. Zwar gibt es immer noch Tyrannen in autokratischen Systemen; in der westlichen neoliberalen Welt sei es von vornherein die innere Tyrannei des narzisstischen Ich-Ideals. Da die Selbstidealisierung letztlich scheitern muss, denn das Ideal ist nicht mehr Richtschnur, sondern unbedingt zu erreichendes erklärtes Ziel, führe dies zu massiven narzisstischen Kränkungen und damit zum Einbruch des Selbstwertgefühls, der Vernichtung des Selbst. Die erlebnismäßige Reaktion zeigt sich daher nicht in Gewissensbissen, sondern in Schamgefühlen.

Die Bedeutung des Narzissmus in unserer Zeit für das gesellschaftliche Leben ist nicht neu. Charim weist denn auch auf das Buch von Richard Sennet, Tyrannei der Intimität, 1977 und auf den Text von Christopher Lasch, The Culture of Narcissm, 1979, hin. Charims Narzissmus Verständnis ist in Abgrenzung und Übereinstimmung mit den beiden Autoren entwickelt, wobei es ihrer Ansicht nach eben nicht um eine ausgeprägte Eigenliebe beim Narzissmus gehe. Hierin zeigt sich schon die Problematik, wenn philosophische Autor:innen auf psychoanalytische Texte zurück greifen, ohne die Entwicklung oder die verschiedenen Strebungen innerhalb des Wissenschaftszweiges zu kennen. Das gilt notwendig auch für uns Analytiker, wenn wir auf philosophische Gedanken zugreifen, ohne die Entwicklung einer Theorie genau verfolgen zu können. Für unser Metier etwa ist an Heinz Kohut zu denken, der im Kern deutlich macht, dass die narzisstische Persönlichkeit eben der Liebe ermangelt und daher einen Ausgleich in der Selbsterhöhung der Person sucht, sich im innersten jedoch hasst und verachtet.
Merkwürdig ist die Abgrenzung gegen die Psychoanalyse, die für Charim darin gegeben ist, dass der Narzissmus eben keine Pathologie sei. Hier drängt sich sofort die Frage auf, ob etwas, das mehr und mehr zum Sozialcharakter wird, also als häufig, den meisten Menschen einer Kultur zugehörig, nunmehr normal und nicht mehr pathologisch ist und ob nicht ganze Kulturen eine Pathologie aufweisen können, so sie dem Humanum entgegenstehen. Charim versteht Narzissmus weder als eine „Pervertierung des bürgerlichen Subjekts“ (Sennett) noch als eine zu beklagende „öffentliche Intimität“ (Lasch). Die Autorin beruft sich auf Freuds Narzissmus Konzept, soweit es ein psychisches Verhältnis von Innen und Außen beschreibt, will Freuds Konzept ausschließlich in Hinsicht auf die »narzisstische Anrufung« lesen (S. 29).

Allerdings ist hier schon ein Problem in der Grundannahme, wenn Charim bei Freuds frühen Annahmen stehen bleibt, in die die Erkenntnisse der modernen Säuglingsforschung noch keinen Eingang gefunden haben. Das Kind lebt eben nicht in einer »symbiotischen Beziehung« zu etwas, dass es noch nicht als Umwelt wahrnehmen kann, da es den Unterschied zwischen Innen und Außen noch nicht kennt. Das Konzept des primären Narzissmus ist hinfällig geworden, vielmehr ist die Entwicklung narzisstischer Selbstbezüglichkeit die Folge interaktionellen Geschehens zwischen Kind und Eltern, natürlich Eltern als gesellschaftliche Subjekte. So ist denn auch das ozeanische Gefühl der Allmacht als Grundthese eine falsche Annahme. Ebenso folgt die Annahme von Triebregungen in diesem Zusammenhang, auf die mensch nicht verzichten wolle, einer als Irrtum längst entlarvten psychoanalytischen Grundannahme. Die infantile Allmachtsphantasie bilde sich im Ideal der Vollkommenheit ab und werde dort, so Freud, zum »Ersatz für den verlorenen Narzissmus« (S. 31).

Dieses Ich-Ideal sei das Erbe des primären Narzissmus – den es eigentlich nicht gibt! Dass heißt nun nicht, dass es die narzisstische Problematik nicht gibt oder dieses tyrannische Ich-Ideal. Karen Horney hat dies als ein Produkt der amerikanischen Kulturentwicklung beschrieben. Das idealisiertes Selbstbild ist ein Gemisch aus Selbstge­nügsamkeit, Unabhängigkeit, vollkommener Gelassenheit, Freisein von Wünschen und Leidenschaften, "Stoizismus" und Fairness. Die gegen sich gerichteten Solls kann er in seinem System nur durch Restriktionen versuchen durchzusetzen. Projiziert er die Forderungen nach außen, kommt er auf anderem Wege in denselben Teufelskreis. Die Empfindlichkeit gegen äußeren Druck wird bloß verstärkt. (Horney (1950), Neurose und menschliches Wachstum, München 1975. Variante des resignierten Typus).
Das Bild des idealen Ich ist das projizierte kompensatorische Ich-Ideal, das bei Horney zum idealisierten falschen Selbst, zum tyrannischen Selbst wird.

Der Neoliberalismus ist die dazu passende Gesellschaftstheorie, in der sich das Subjekt so den Marktbedingungen anverwandeln soll, dass es notwendig Erfolg hat. Wenn nicht, liegt es eben an der Minderwertigkeit des Subjektes.

»Man könnte sagen: eine radikale Übersetzung allen gesellschaftlichen Geschehens [wie dies der Neoliberalismus vornimmt, BK] in das, was man eine Denkweise, eine Sprache des Marktes nennen könnte. Alle sozialen Beziehungen – die Beziehungen zwischen den Menschen ebenso wie die Beziehung zu sich selbst – sollen in dieser Sprache des Marktes, in der Sprache des Wettbewerbs, in der Sprache der einen, ökonomischen Logik artikuliert werden. Artikuliert in einem starken Sinn: Alle sozialen Beziehungen, ob familiäre, freundschaftliche, professionelle, ja sogar das Verhältnis zu sich selbst, sollen nach dem Modell „Investition-Kosten-Gewinn“ verstanden, begriffen, aufgefasst, gelebt werden« (S. 61).

Foucault sprach von der »Kompetenzmaschine«. Das ist nicht das gesellschaftliche Subjekt, sondern es soll ja erst die Verkörperung einer solchen »Kompetenzmaschine« werden. Ein Rädchen im Getriebe, das sich für das Subjekt seiner Handlungen hält. Konzepte von »Einsozialisierung oder Anrufung« werden überflüssig. Es bedarf keiner Verinnerlichung mehr, es reicht das Reiz-Reaktions-Schema zur Manipulation der einzelnen Menschen, zur Manipulation von deren Umfeld, indem mensch »positive Anreize setzt«. »Weshalb folgerichtig die adäquate Psychologie des Neoliberalismus der Behaviorismus ist, der nur das äußere Verhalten betrachtet« (S. 66). Das aktuell die sogenannten »DIGAS«, die »Digitalen Gesundheitsanwendungen« so en vogue sind, geht in die gleiche Richtung. Es bleibt zu hoffen, dass die Annahme von einer ökonomischen Logik, die das menschliche Zusammenleben bestimme, nicht funktioniert, weil die Menschen eben nicht so funktionieren. Greift jedoch die »narzisstische Anrufung«, sichert sie den Effekt. Sobald die Marktteilnehmer:innen glauben, dass sie in ihrer Verstrickung der »freiwilligen Unterwerfung« dem System entkommen, indem sie im Ranking zum Beispiel der Pharmareferent:innen oder Callcentersklaven den ersten Platz belegen, sitzen sie in der Falle. Darin liegt just das Paradoxon: Der narzisstische Ruf treibt die Individuen an, weil sie der Illusion oder der Hoffnung folgen so dem Wettbewerb entkommen zu können (S. 116).

Dieses Rennen nach Erreichung des unerreichbaren Ideals führt zu Erschöpfung. Sie ist »der Schatten den der Narzissmus wirft«. Kann das Ich-Ideal abgetreten werden, was sich in der Fankultur zeigt, so findet der selbstbezügliche Narzissmus seine Gratifikationen im eigenen Weltzugang des »Durchschauens« der gespürten Gewissheit von Wahrheit, die sich nicht um einen Diskurs kümmern muss, sondern in der Selbstgewissheit seine wahre Weltsicht gefunden hat.

»Die Überzeugung von dem, was ich tue, tun soll, tun muss, bezieht sich nicht auf ein allgemeines Gesetz, eine allgemeine Moral, auf die allgemeinen Sitten, sondern eben nur auf meine subjektive Überzeugung. In meinem Handeln soll sich dann nur meine innere Gewissheit verwirklichen. In diesem Sinne wird eben mein Ich zum Inhalt meines Tuns, wie Hegel es nennt« [Hervorhebung im Original, BK] (S. 193).

Die Qualen des Narzissmus zeigen sich in dem Zwang zur Selbstoptimierung bis hin zu physisch-leiblichen Manipulationen, den „Verbesserungen“ von Größe und Gestalt der weiblichen Brüste und der Verlängerung der männlichen Penisse, in ständig neuen Diäten und Moden, denen mensch entsprechen muss, will ersie perfekt erscheinen.

»Im vorherrschenden Narzissmus gründet alles auf der eigenen Identität. Das ist klar. Diese Identität aber – und das ist der springende Punkt, der hier deutlich wird – ist oder soll ausschließlich die einer Selbst-Identifikation sein. Das ist der Höhepunkt der Konkretheit des Einzelnen: der Höhepunkt unserer Obsession mit der Frage, wer oder was bin ich? Und das einzige Kriterium dafür ist – mein Gefühl. Die letzte Wahrheit meiner selbst ist meine gefühlte Identität« [Hervorhebung im Original] (S. 201).

Bei der Selbstsetzung der Identität sollen die anderen auf ihre Zustimmung reduziert werden, Selbst- und Fremdbild »werden per Dekret zur Deckung gebracht« (S. 202).

Das Frau Charim Triggerwarnungen vor Filmen oder Texten verharmlost, mag ihrer fehlenden Erfahrung mit komplex traumatisierten Menschen geschuldet sein. Ihrem Resümee möchte ich aber gerne beipflichten: »Wir haben heute nicht die Möglichkeit La Boéties – uns fehlt aber auch der Hegel’sche Optimismus. So bleibt uns nur die Feststellung: Die Ideologie des Narzissmus [und des Neoliberalismus, BK] ist eine Sackgasse« (S. 211).

Bernd Kuck      
April 2023

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