Brown, Simon: Was ein Gesicht verrät. Alles über
die Deutung von Charakter, Eigenschaften und Gesundheit. Mosaik Verlag,
München September 2000, 128 S., mit Register, 29,90 Mark
Wer möchte nicht gern in Gesichtern lesen? Einige Gesichter faszinieren
uns spontan, andere stoßen uns ab, zu manchen Menschen fassen wir
rasch Vertrauen, andere sind uns von vorn herein unsympathisch. Aus dem
Gesichtsausdruck können wir die Stimmung unseres Gegenübers erspüren.
Aber wie oft haben wir uns nicht auch in diesen Schnelldiagnosen getäuscht?
Der Engländer Simon Brown verspricht mit seiner "praktischen Kunst
des Gesichterlesens", so der (übersetzte) englische Originaltitel
nicht weniger, als dass wir - unter seiner Anleitung - in Gesichtern wie
in offenen Büchern lesen können. Diese schon von dem Schweizer
Pfarrer und Hobbywissenschaftler Johann Kaspar Lavater (1741-1801) gepflegte
Kunst wird von Brown mit asiatischer Qi-Energie, Yin und Yang sowie der
amerikanischen "Think positive"-Lebensmaxime verquickt und mündet
in konkrete Tipps für Kleidung und Ernährung.
Was hat uns Brown mitzuteilen? Hier ein paar Kostproben: "Volle Wangen
und weit stehende Augen weisen auf einen Menschen mit offenem Geist hin",
Menschen mit quadratischem Gesicht "denken logisch und bringen Sachen schnell
zu Ende", Menschen mit runden Gesichtern haben "eine kräftige Konstitution",
eine niedrige Stirn deutet auf einen "gut organisierten und scharfen Geist"
hin, waagerechte Falten auf der Stirn rühren von zu viel Fleisch und
Salz im Essen her und Männer mit Haarausfall im Stirnbereich "haben
meist eine reiche Fantasie und einen kreativen Geist".
Ferner sind Menschen mit langen Haaren Freidenker und solche mit geraden
Haaren sind freundlich. Ein rasierter Schädel zieht Qi-Energie aus
der Atmosphäre an, was dem Intellekt zu gute kommt (gilt nur für
Männer). Menschen mit buschigen Augenbrauen haben einen starken Charakter,
während solche mit dünnen sich Veränderungen leicht anpassen
können. Menschen mit tief liegenden Augen habe eine starke Anziehungskraft;
wenn sie eng zusammen liegen, deute das auf Diskussionsfreude und Obsessivität
hin. Eine große Nase zeige starke Antriebskraft und eine kleine ...
es reicht. Irgendwie bekommt bei Brown jeder was Positives.
Der Autor zitiert keine einzige Quelle, um seine Behauptungen über
den Zusammenhang von Gesichtsform und charakterlichen Eigenschaften zu
belegen. Im Grunde handelt es sich um nichts als Vorurteile, und die können
gefährlich werden. Lavater war ohne Zweifel ein Menschenfreund, aber
seine "Physiognomik", die Lehre von der Außenausprägung der
Seele in Gesicht und Schädel, richtet - kommt sie in falsche Hände
- verheerende Folgen an. Schon Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799),
der körperlich mißgestaltet war, empörte sich über
die seltsame Art der Menschenbeurteilung und entwickelte halb in Wut, halb
aus Spaß eine "Physiologie der Schwänze" anhand der Ringelung von
Schweineschwänzen. Davon hat Brown, der sich auf die "antike Kunst
der Gesichtsdiagnostik" und ihre "5 000 Jahre alten Tradition" beruft,
natürlich keine Ahnung, ebenso wenig wie von der Praxis der Physiognomie
bei den Nazis. Die Nazis waren, im Gegensatz zum kauzigen Lavater, gewiß
keine Menschenfreunde. Eine Hakennase (Brown: "erfolgreich, enthusiastisch,
energisch, mutig") war für die Nazis ein Hauptmerkmal der Juden, die
sie bedenkenlos verfolgten.
Lavater konnte sich naiv darüber wundern, dass seine ferndiagnostizierten
Eigenschaften mit dem Original oft nicht übereinstimmten. Er kam nie
auf die Idee, dass vielleicht die ganze Konstruktion seiner "Wissenschaft"
schief sein könnte, ebensowenig wie Brown der geringste Zweifel plagt.
Der Mosaik-Verlag, zu Goldmann gehörend und spezialisiert auf meist
esoterische Lebenshilfe, hat diesen hanebüchenen Unsinn mit vielen
Bilder aufwändig gedruckt.
Das alles wäre nicht der Rede wert, wenn nicht ein damit zusammenhängender
Dauerskandal zu beklagen wäre: das Buch steht in den Regalen der Buchhändler
unter "Psychologie". Browns Buch ist ein schönes Beispiel (und nur
darum gehe ich darauf ein) für die üblich gewordene Verquickung
von Psychologie und Esoterik. Die Psychologie hat daran selbst mit am meisten
Schuld. Seit Freud tradiert sie, wie jüngst Rolf Degen in seinem "Lexikon
der Psycho-Irrtümer" (Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2000) belegt,
unhinterfragte Behauptungen und vorindustrielle Mythen. Ihr Hauptmerkmal
ist der Verzicht auf empirische Kontrolle. Damit machte sich die Psychologie
hilflos gegen das Eindringen der seltsamsten Lehren aus aller Welt.
Der "Kampf gegen die Scharlatane" unter den Psychologen, der mit dem
Psychotherapeutengesetz 1999 aufgenommen wurde, kann deshalb noch nicht
wirksam werden - die "Scharlatane" sitzen ja mitten unter den Psychotherapeuten.
Noch heute kann jede fragwürdige psychoanalytische These wie die von
der Verdrängung unangenehmer Kindheitserinnerungen ins Unbewußte
in hochseriösen Verlagen wie dem wissenschaftlichen Springer-Verlag
veröffentlicht werden. Herta Wetzig-Würth und Peter Müller
sind zwei Psychoanalytiker, die ihr Buch "Das psychotherapeutische Gespräch
- Therapeutisch wirksame Dialoge in der Arztpraxis" (Berlin Heidelberg
2000) auf dieser Freudschen Behauptung aufbauen. Es versteht sich von selbst,
dass sie in ihren zahlreichen Beispielen genau das belegen. Sie wissen
oder merken nicht, dass die Grundannahme in kontrollierten Untersuchungen
nicht bestätigt werden konnte, wie Degen ausführt, bzw. die Verdrängung
unangenehmer Kindheitserinnerungen ins Unbewußte nur eine von vielen
Möglichkeiten der seelischen Verarbeitung ist.
Degens Buch ist ein starkes Plädoyer dafür, endlich den Elfenbeinturm
zu verlassen und anhand der Befunde der empirischen Psychologie (und anderer
Gebiete wie der Hirnforschung) die einzelnen Aussagen zur Psyche des Menschen
einer Überprüfung zu unterziehen. Es wäre meines Erachtens
die einzige Chance, wirkungsvoll eine saubere Trennlinie zwischen Psychologie
und Esoterik, die bei Brown ins Gemeingefährliche lappt, zu vollziehen.
An die Buchhändler geht die dringende Bitte, ihr Psychologie/Esoterik-Sammelsurium
wieder reinlich zu trennen. Sie brauchen dazu nur in die Literaturliste
im Anhang zu schauen. Wer dann noch den Schund von Brown und Konsorten
kauft, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.
Gerald Mackenthun
Berlin, September 2000
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