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Beebe, Beatrice/Lachmann, Frank M. (2002): Säuglingsforschung und die Psychotherapie Erwachsener. Wie interaktive Prozesse entstehen und zu Veränderungen führen. Stuttgart 2004


Die Säuglingsforschung liefert Beiträge, die es erleichtern, sich die frühe Geschichte erwachsener Patienten besser vorzustellen. Dazu liefert sie Metaphern und Szenarien in größerer Zahl als dies bislang möglich war. Das Hauptanliegen des vorliegenden Textes besteht jedoch darin, den nonverbalen und impliziten Interaktionsprozeß innerhalb der psychoanalytischen Behandlung zu untersuchen.
Die allgemein anerkannte Ebene psychoanalytischen Vorgehens umfaßt explizite, verbale und symbolische Narrative, wobei die parallel verlaufenden impliziten, nonverbalen Interaktionsprozesse bislang nicht genügend Beachtung fanden.

Im Unterschied zur aktuellen beziehungsorientierten Psychoanalyse werden im vorliegenden Text besonders ein systemtheoretischer Ansatz, sowie die nonverbalen Aspekte der „Ko-Konstruktion“ herausgearbeitet. Ferner sollen der Säuglingsforschung entnommene Interaktionsmuster die Organisationsprinzipien von Interaktionsprozessen in der Psychoanalyse beleuchten.

In dem ausführlich geschilderten Fall "Burton", wobei die Autoren eine Betrachtung im Stile "damals und heute" unternehmen, also eine Nachbetrachtung einer den interpersonellen Interaktionsprozeß noch nicht berücksichtigenden psychoanalytischen Behandlung durchführen, fällt es dem nicht orthodox arbeitenden Analytiker schwer, das wirklich Neue zu erkennen. So schildern die Autoren (Beebe behandelte, Lachmann supervidierte), wie sie vollkommen vernächlässigt hätten, daß sie permanent an der Ko-Konstruktion der therapeutischen Behandlung beteiligt sind.

"Heute betrachten wir die therapeutische Behandlung als einen in jedem Moment ko-konstruierten Interaktionsprozeß, dem zufolge psychodynamische Narrationen und das Aushandeln der Beziehungsmuster Augenblick für Augenblick zwischen Vordergrund und Hintergrund fluktuieren." (S. 34)

Das ist nicht wirklich neu, zumindest dann nicht, wenn einem die Lewinsche Feldtheorie und die systemische Betrachtung nicht gänzlich fremd sind. Dies hängt möglicherweise mit dem Verfangensein orthoxer Psychoanalyse in den Konstrukten von Übertragung und Gegenübertragung zusammen, die dem konkreten, realen Beziehungsgeschehen zwischen zwei realen Menschen nicht immer die nötige Aufmerksamkeit schenkten. Gleichwohl bleibt es verdienstvoll, die aus der Säuglingsforschung nun empirisch belegten feinsten Interaktionen für die Psychotherapie - hier die analytische - fruchtbar machen zu wollen.

Beim Denken in Systemen muß konstatiert werden, daß Säuglinge zu Selbstregulierung und Selbstorganisation fähig sind und sein müssen. Der Selbstregulierungsprozeß verändert aber ständig auch den Prozeß der interaktiven Regulierung und wird zugleich durch diese modifiziert.

"Mit dem Selbstregulierungsprozeß wird die Erfahrung des Säuglings von 'Urheberschaft' organisiert, vorausgesetzt allerdings, daß die interaktive Regulierung Urheberschaft 'bewilligt' und unterstützt." (S.45)

So können Beebe und Lachmann in einem anderen Fall (Karen) zeigen, daß Störungen der interaktiven Regulierung die Selbstregulierung beeinträchtigen können. Kleinste Regungen der Analytikerin, die sich ihrer eigenen Wahrnehmung entziehen und ebenso der bewußten Wahrnehmung der Patientin, sind vollkommen ausreichend, den interaktiven Prozeß ins Stocken geraten zu lassen. Übertragungsdeutungen greifen hier nicht, denn die aufgenommenen Regungen entziehen sich der bewußten Wahrnehmung, was sich auch hirnphysiologisch mit Aufnahme von Reizen unterhalb der Bewußtseinsschwelle erklären läßt.

Auf dem Hintergrund der erstaunlichen Fähigkeiten des Säuglings im dritten oder vierten Lebensmonat, muß das erste Lebensjahr als Phase eigenständiger Organisation betrachtet werden. D. h. aber auch, daß das "Es" kein chaotisches Triebkonglomerat ist, sondern die grundlegenden Fähigkeiten zu beständiger Selbstorganisation im interaktiven Prozeß bereitstellt, aus denen sich mehr und mehr das organisierte Ich herausbildet: Und das schon sehr früh. Diese hier entwickelten nonverbalen Interaktionsmuster bleiben wirksam, auch im Behandlungszimmer, wenngleich unterschiedlichste Weiterentwicklungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Das ist aber nicht bloß Übertragung; vielmehr ist hier ein weiterer Ansatz zu sehen, aus dem transparent wird, wieso es zwischen AnalysandIn und TherapeutIn zur Passung kommt oder eben auch nicht.

Interessant sind auch die Überlegungen zum Prozeßmodell, wonach der Säugling keine Objektrepräsentanzen in sich bildet, sondern repräsentiert sind die dynamischen Interaktionsspiele zwischen dem handelnden Säugling und seiner handelnden Fürsorgeperson. Hier wird ein dyadisches Phänomen, erwachsen aus der zwischenmenschlichen Interaktion repräsentiert, "das für die jeweiligen Partner nicht getrennt beschrieben werden kann" (S. 138). Das bedeutet aber auch,

"daß dem Individuum beide Interaktionsrollen bekannt sind. Das mag erklären, weshalb in der Erwachsenenbehandlung dem Patienten beide Rollen der Interaktion vertraut sind und er sie manchmal austauscht: zum Beispiel in der Interaktion Masochist-Sadist, Opfer-Täter, Flüchtender-Verfolger, Verlassender-Verlassener. Der einen oder anderen Seite kann Anerkennung verweigert werden, sie kann unterdrückt, in Konflikte gestürzt, dem Partner zugeschrieben oder um jeden Preis gesucht werden" (a.a.O.).

Hier ist etwas angesprochen, dass natürlich aus der Gestalttherapie, der Arbeit mit dem "heißen Stuhl" hinreichend bekannt ist.

Die oben angesprochene Ko-Konstruktion ist wesentlich für den Grad der in der Behandlung erreichten Selbstregulierung. Natürlich ist es auch hier ein wechselseitiger Prozeß, der vom Engagement beider Partner abhängt. Es macht aber einen großen Unterschied, ob der Therapeut seine Aufgabe darin sieht, dem Aufmerksamkeitsmuster und dem Affektzustand des Patienten nachzuspüren, ob er den Affektzustand des Analysanden stimuliert und/oder dämpft, oder ob er ein gleichbleibendes, "relativ unverändertes Aufmerksamkeits- und Affektniveau bei(behält) („Neutralität“)". Das kann kaum ohne Auswirkung auf die therapeutische Beziehung bleiben.

Aus Video-Mikroanalysen der Face-to-face-Interaktion zwischen Säugling und Mutter ist bekannt, daß vermeidend gebundene Säuglinge diese Situation nur dann halten oder aushalten, wenn sie sich gleichzeitig mit taktilen Selbsttröstungen beschäftigten. Ansonsten tendierten sie dazu, den Kopf wegzudrehen, als würden sie die Flucht antreten.

"Unsere Schlußfolgerung ist, daß Selbstregulierungsstörungen im Alter von vier Monaten ein unsicheres Bindungsmuster mit einem Jahr vorhersagen und eine gestörte Responsivität auf die Verbalisierungen der Mutter im Alter von zwei Jahren zur Folge haben." (S.146)

Im übrigen finden sich auch bei den TherapeutInnen eine ganze Reihe von selbstregulierenden und selbsttröstenden Verhaltensweisen, die in ihrer auftretenden Häufigkeit meist nicht bewußt sind.

Die Autoren vertreten die Auffassung, daß nicht sosehr Objektrepräsentanzen gebildet werden, sondern Repräsentanzen ganzer Interaktionsprozesse. Kleinste Hinweise reichen dann u.U. aus, auf ein erwartetes Zusammenspiel hin zu agieren. Dabei werden Interaktionen kategorisiert und schließlich repräsentiert, was eben auch dazu führen kann, daß nur bestimmte Aspekte unbewußt zentriert werden und so die reale Beziehung mehr und mehr dem repräsentierten Interaktionsprozeß sich angleicht.

"Jennifer fürchtet sich vor positiven Erfahrungen, die sie destabilisieren könnten. Ihre Aufmerksamkeit konzentriert sich einzig auf ablehnende Signale. Auf Ablehnung folgt keine gesteigerte Erregung und Aufregung, also ist sie 'sicher'." (S. 152f)

Interessant für die heutige Debatte um körpertherapeutische Vorgehensweisen ist nun, daß Informationen aus der verbalen Interaktion in sprachlicher Form gespeichert werden, indes nichtverbale Informationen in Form von visuellen, akustischen, olfaktorischen, taktilen und Temperatureindrücken aufbewahrt werden. Das macht begreiflich, warum so manche nichtsprachlichen Eindrücke, die gleichwohl unterschwellig wirksam sind, nicht allein über sprachliche Mittel zugänglich sind.

Organisationsprinzipien der Interaktion

- Es wird zwischen expliziter und impliziter Informationsverarbeitung unterschieden, womit ein Theorierahmen geschaffen wird, der verbale und nonverbale Kommunikationsmuster in die Psychoanalyse integriert.

- Erwartungsmuster, die in die Ko-Konstruktion der Interaktion einfließen, bieten ein anderes Verständnis und implizieren ein Wissen über das prozedurale Geschehen als möglichen therapeutischen Wirkfaktor.
Die Wirsamkeit therapeutischen Geschehens muß nicht notwendig in explizite verbale Kommunkikation transformiert werden, sondern kann sich durch implizite Verarbeitung manifestieren.

Die Betonung der Selbstregulierung sei eine Antwort auf die häufig an beziehungstheoretischen und systemtheoretischen Modellen geäußerte Kritik, sie würden die Umwelteinflüsse überbewerten und entsprechend endogene Einflüsse unterbewerten.
Alfred Adler mit seinen Überlegungen zum schöpferischen Element des Kindes in seiner Antwort auf die ihm begegnenden Bezüge trug dem schon längst Rechnung, wurde aber immer wieder ignoriert oder mißverstanden. Die Vorstellung vom Menschen als „Monade“ ist wohl bei Fichte und Freud zu finden, nicht in den - auch philosophischen - Überlegungen, die den Menschen als dialogische Existenz begreifen.

Durch den Gesichtspunkt der Ko-Konstruktion verändert sich die Einschätzung der Subjektivität des Analytikers. Der Beitrag der Subjektivität des Analytikers wurde bislang vom Interesse der Verschleierung oder Klärung dominiert. Sie konnte den Prozeß behindern, ungünstig beeinflussen, verzerren oder vorantreiben. Im Modell der Ko-Konstruktion wird das subjektive Erleben als auftauchender Prozeß verstanden, der ständig durch Selbst- und interaktive Regulierung beeinflußt wird.

Unter Einbeziehung der neueren Gehirnforschung wird nun auch theoretisch erklärbar, wieso kleinste mimische Veränderungen Einfluß auf das interaktive Geschehen haben, wiewohl sie nicht bewußt wahrgenommen werden.

"Das emotionale Gedächtnis beinhaltet Aspekte des limbischen Systems wie die Amygdala. Zum Beispiel kann die Veränderung der Gesichtsmimik des Partner in vier Millisekunden verarbeitet und als Veränderung in der Amygdala außerhalb der Wahrnehmung registriert werden. Explizites und implizites Gedächtnissystem sind potentiell unvereinbar." (S.237)

Daß es auch zu impliziten Veränderungen ohne Verbalisierung kommt, spricht durchaus für nonverbale Formen der Psychotherapie. Zumindest können diese Methoden besser verdeutlichen und dem Bewußtsein zugänglich machen, was der Patient nie schildern kann, da daß soziale Verhalten in Bruchteilen von Sekunden koordiniert wird und sich außerhalb der Wahrnehmung ereignet, sodaß eine kognitive Kontrolle zunächst gar nicht möglich ist. Implizite und explizite Vorgänge bedürfen der Integration, um therapeutische Wirksamkeit verständlich zu machen, bzw. überhaupt zu erzielen.

So läßt sich im Grunde wieder neu zusammenfassen: Der heilende Faktor ist die Person des Therapeuten, das heißt vor allem seine Offenheit für die lebendige Begegnung, jenseits vorgefaßter theoretischer Konzepte. Da wird aber etwas beschrieben, was in der Bewegung des hermeutischen Zirkels selbstverständlich erscheint: Im Prozeß der Verstehensbemühung entwickeln sich beide am Prozeß Beteiligte, was nur möglich ist, wenn der Eintritt in den offenen Dialog erfolgt.
 


Bonn, Mai 2005
Dipl.-Psych. B.Kuck 

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Säuglingsforschung und die Therapie Erwachsener

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