Alegiani,
Regine:
Die späte Suche nach Grund. Eine analytische
Psychotherapie im höheren Alter. Vandenhoeck&Ruprecht GmbH
&Co, KG, Göttingen 2009, 127 Seiten.
Man hält ein kleines Buch mit 127 Seiten im
Taschenbuchformat in der Hand. Schnell zum Lesen, vielleicht wird man
am Schluss mit einigen Informationen bereichert, so mag man meinen.
Aber Stopp. Gleich auf den ersten Seiten wird deutlich, welch ein
Schatz sich hier auftut. Abgewogen, nachdenklich, Freiräume
gebend, zum eigenen Hinterfragen einladend, spannend und zugleich
zart in Empfindungen und Gedanken, wird der Leser hingeführt in
einen Bereich der Psychotherapie, der noch immer in der
therapeutischen Begleitung unterversorgt ist: die analytische
Psychotherapie im höheren Alter. Die Gründe dafür
werden fachkundig und ausführlich im Vorwort von Professor Gerd
Lehmkuhl aufgezeigt. Oft sind es Widerstände vieler Analytiker
gegen bedrohliche und beschämende Aspekte des Alters. In vielen
therapeutischen Begleitungen werden die Schicksale in Krieg und NS
Zeit ausgeblendet.
Und
hier lädt die Autorin ein, ihren Weg der analytischen Arbeit
mitzugehen, um Menschen in ihrem Alter und gerade auch Therapeuten zu
ermutigen, sich auf diesen Prozess einzulassen, der so viel
Segensreiches bewirken kann.
Die
Autorin schildert sich als eine Frau mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bis zum 64. Lebensjahr
hatte sie Erfahrung mit mehrerer Therapien. Mit 69 Jahren begann sie
die Psychoanalyse. Warum noch? Sie wollte es nicht hinnehmen, keine
Klarheit in ihrem Leben zu haben. Sie wollte sich verantwortlicher,
selbstkritischer mit den im Leben entstandenen Fehlhaltungen und
Deformationen auseinandersetzen. Sie lebte bis dahin in ihrer Welt.
Hatte sich ein Sicherungssystem geschaffen, dessen Strukturen sich an
Ängsten, projektiven Annahmen, Gehemmtheiten orientierte. Was
sie sich versprach: sie wollte etwas verändern. Und gerade die
Psychoanalyse erweist sich als umso wirksamer, je radikaler der
Begriff der Veränderung gedacht wird.
Als
Übersetzerin lebte die Autorin ihr Leben viel in Sprache und
Schrift. Eine Schreibhemmung war unmittelbarer Anlass für ihre
therapeutische Arbeit.
Es
macht viel Mut, auch für Therapeuten, diese feinsinnige
Reflexion im analytischen Prozess zu begleiten. Zunächst
schildert die Autorin die prägenden Erlebnisse als Kind von
Krieg und Nachkriegszeit. Dazu gibt sie freimütigen Einblick in
ihre seelische Verfassung, indem sie berührend in ihrem Tagebuch
mitlesen lässt.
Subtil
lässt die Autorin den Leser ihren analytischen Prozess
begleiten. Fünf Erfahrungsschritte im Prozess werden gegangen:
Umgang mit der klinischen Diagnose, hier die
Borderline-Persönlichkeitstörung, die Arbeit am Hier und
Jetzt, die Arbeit an der Übertragung, die neue Erfahrung von
Grenzen und die Entdeckung der menschlichen Destruktivität. Bei
allen Menschen mit Kriegs- und Vertriebenenerlebnissen bleiben
Verwundungen, die spätestens im Alter aufbrechen. Dies nicht
resignativ hinzunehmen, sondern sich mit der eigenen Geschichte und
deren Folgen auseinanderzusetzen, dazu ermutigt die Autorin. Denn
gerade ältere Menschen werden von Hoffnungslosigkeit und
Vergeblichkeitsgefühlen eingeholt. Subtil wird im
therapeutischen Prozess beschrieben, dass durch Übertragung kein
Raum für Realitätsprüfung bleibt. Es gibt so die
Gefahr, sich zu verlieren, aber auch die Hoffnung, dass es gelingen
könne, den überwältigenden Einfluss von Wiederholungen
in ihrem Leben zu bremsen und so frei zu werden. Eindrucksvoll
beschreibt die Autorin die Chance für ältere Menschen und
für Therapeuten, sich hier nicht wieder erschrocken
zurückzuziehen und wieder abzuwehren, was neu ist, sondern diese
Möglichkeit als Wendepunkt zu sehen, wo man aufgeben kann oder
zu erkennen und sich zu fügen versucht. Es ist berührend,
in Aufzeichnungen und Schilderungen mitzuerleben, wie zu Beginn der
Therapie das Gefühl bestand, von innerer Leere, die sie nicht
füllen konnte und wie sie auf ihrem Weg zunehmend erlebte,
weniger abhängig und weniger bedürftig zu sein. So begann
sie, sich aus der Enge kindlicher Ausschließlichkeitswünsche
zu lösen, die die Entwicklung reiferer Gefühle hemmten.
Gerade ihre Schreibhemmung war Anlaß, an den destruktiven
Anteilen zu arbeiten und diese zu integrieren. Zu den großen
fördernden Erlebnissen einer psychoanalytischen Therapie, so
macht die Autorin deutlich, gehört es, die mit den destruktiven
Teilen verbundenen Wiederholungszwänge zu unterbrechen und die
unbewiesenen Annahmen über andere als eigene Projektionen zu
erkennen.
So
macht die Autorin Mut, die menschliche Vereinzelung anzunehmen und
auszuhalten. Im Erwachsenenalter sind es nicht mehr nur die frühen
Konflikte des Kindes, die Leid verursachen. Vieles wird projiziert
auf die Eltern, auf den Krieg und Kriegserlebnisse, um nicht die
eigenen Projektionen und Aggressionen ansehen zu müssen. Der
nachtragende Blick, so die Autorin, bindet seelische Kräfte, die
zur eigenen Veränderung zur Verfügung stehen würden.
Aber, so sagt sie, es gibt einen dritten Weg: das Verlangen nach
Räumen, das den Abstand zwischen Erinnerung und Wirklichkeit
überwinden hilft, in dem Beides bestehen kann, relativiert durch
die vergehende Zeit und den Veränderungen. Am Ende der Therapie,
so schreibt die Autorin als Ausblick, war sie nicht mehr so fixiert
an schmerzliche Erinnerungen realer Personen der frühen
Lebenszeit. Von Anfang an sind wir Menschen vielfältigen,
intensiven, oft zufälligen Einflüssen ausgesetzt, die es zu
verstehen, standzuhalten und anzunehmen gilt. So ist es nicht leicht,
unter all diesen Umständen ein starkes Ich zu entwickeln, um die
irritierenden Einflüsse weit weg von sich zu halten.
Was
bringt eine analytische Psychotherapie im Alter? Nach Freud kann der
ältere Mensch sich in seinem inneren Kern im Wesentlichen nicht
mehr verändern. Aber lebens- und fallgeschichtliche Erfahrungen
sowie neurophysiologische Untersuchungen lassen an dieser Auffassung
einen Wandel erkennen. Das Leben gerade älterer Menschen ist oft
durch traumatische Störungen beeinträchtigt. Mit
verstorbenen Eltern kann nichts mehr besprochen werden, das eigene
Leben scheint gelebt, die Zukunft begrenzt zu sein, wie auch die
Kräfte, die Zukunft zu gestalten. Gerade für Menschen einer
Kriegsgeneration erscheint das Leben manchmal verfehlt oder gar
wertlos.
Und
hier macht die Autorin einfach Mut.
Ihr
Buch ist bewegend, direkt und dem Leben zugewandt. Es ermuntert
Therapeuten und ältere Menschen gemeinsam den Weg zu gehen, das
gelebte Leben, gerade von älteren Menschen, Wert zu schätzen.
Aber es geht nicht nur um Getragen und Gehalten werden. Gerade den
älteren Menschen kann die Wahrheit über sich zugemutet
werden, denn es ist seine persönliche Wahrheit. So kommt er zu
seiner individuellen Verantwortlichkeit.
Am
Ende des Buches hat der Leser, ob potentieller Patient oder Therapeut
das Gefühl, einen gelungen Prozess begleitet haben zu dürfen.
So ist zu wünschen, dass dieses Buch den Wunsch und den Mut von
älteren Menschen und Therapeuten stärkt, sich gemeinsam den
nicht immer leichten Weg nach mehr Freiheit und Verantwortlichkeit
zuzutrauen.
Dr.
Anton Drähne, Bonn Okt. 2009
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