Showalter, Eliane: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der
Medien. Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger. Berlin-Verlag, Berlin 1997, 319 Seiten.
Amerika wird von einer Reihe höchst rätselhafter Epidemien heimgesucht.
Zehntausende leiden am "chronischen Müdigkeitssyndrom" und am
Golfkriegssyndrom, doch trotz intensiver Suche können keine auslösenden
Bakterien, Viren oder Gifte gefunden werden. Weitere Zentausende geben
an, sich plötzlich an Vergewaltigungen durch den Vater in der Kindheit
erinnern zu können und die Diagnose "multiple Persönlichkeit" wird immer
häufiger gestellt. Zunehmend mehr Menschen berichten, sie hätten an
satanischen Ritualen teilnehmen müssen oder seien durch Außerirdische
entführt worden. Es wird behauptet, daß bislang über eine Million
Amerikaner entführt worden seien.
Für die Amerikanerin Elaine Showalter von der renommierten
Princeton-Universität, Autorin mehrerer kulturwissenschaftlicher Werke,
sind die genannten Symptome die moderne Wiederkehr der schon zu Sigmund
Freuds Zeiten weit verbreiteten Hysterie. Ein gemeinsames Merkmal der
von diesen Krankheiten befallenen Menschen sei es, unter allen Umständen
die Ursachen ihrer psychischen Probleme in äußeren Quellen zu suchen: in
einem Virus, in sexueller Belästigung, chemischer Kriegsführung, in
teuflischen Verschwörungen oder außerirdischer Infiltration.
Showalter betont, sie wolle die Gefühle der Betroffenen nicht verletzen.
Die Diagnose der Hysterie sei auch heute noch diskriminierend und hat
einen beleidigenden Klang. Freud und zeitgenössische Psychiater wie
Charcot in Paris hätten viel dazu beigetragen anzunehmen,
Hysterikerinnen "machen" ihre Symptome.
Tatsächlich ist Hysterie nicht Schwäche oder moralischer Mangel oder
Verstellung, sondern ein kulturell geformtes Streß- und Angstsymptom.
Die sozialen Konflikte, die hysterische Beschwerden verursachen, sind
real. Showalter nimmt an, daß Hysterie eine Körpersprache des vor allem
weiblichen Aufbegehrens gegen die patriarchalische Unterdrückung ist.
Diese Menschen befanden oder befinden sich in psychischen
Ausnahmesituationen (wie beispielsweise die Golgkriegsteilnehmer), aus
der sie in eine partielle Verantwortungslosigkeit fliehen, indem sie
zwischen sich und den Ursachen strikt trennen.
Die Autorin rekapituliert die Geschichte der Hysterie und beschreibt
dann die Entwicklung der neuen Hysterien, die sich vor allem über die
Medien in Form von Erzählungen verbreiten. "Hystorien" ist eine
Wortzusammenziehung von Hysterie und History (Geschichte). Die immer
bizarrer und unglaubwürdiger werdenden Berichte über geheime
Statanskulte und wochenlange Entführung durch Marsmenschen verbinden
sich in den USA mit einem historisch gewachsen, paranoiden Mißtrauen in
die Regierung und einer puritanischen Obsession für sexuellen Mißbrauch.
Die Patienten und die sie unterstützenden Ärzte geben Eindrücke als
Tatsachen aus, undifferenzierte und unbeweisbare Äußerungen werden wie
medizinische Fakten behandelt. Durch den Vorwurf des sexuellen
Mißbrauchs sind schon viele Familien zerbrochen und Väter ins Gefängnis
gewandert.
Glücklicherweise sind die ersten wieder frei, weil sich die
Beschuldigungen als unhaltbar erwiesen. Die Gerichte lehnen immer mehr
Verfahren mangels Beweisen ab. Doch noch vergeuden Hunderttausende ihr
Leben mit kostspieliger Therapie, die ihnen weder Erleichterung noch
Heilung bringt. Gerade die Medien hätten sehr viel dafür getan, ein
bedenkenlos irrationales und paranoides Denken konsensfähig zu machen.
Gerald Mackenthun, Berlin
direkt bestellen:
Hystorien. Hysterische Epidemien im...