Clinton, Hillary Rodham: Gelebte Geschichte. Gebundene Ausgabe - 669 Seiten - Econ - Erscheinungsdatum: 9.
Juni 2003
Der amerikanische Präsident, so ließ die Washington Post am 21. Januar 1998
durchsickern, habe intime Beziehungen zu einer Praktikantin im Weißen Haus
gepflegt. War Bill Clinton am Ende? Fünf Jahre einer Präsidentschaft, die
von Anfang an auf den wütenden Widerstand der konservativen Opposition stieß,
schienen mit einem Schlag zunichte gemacht, Amtsenthebung drohte. Mochte er in
diesem Moment auch wie ein geschlagener Mann wirken - hinter den Kulissen
erlebten seine Mitarbeiter einen zweiten Bill Clinton, einen, der
unbeeindruckt konzentriert an seiner Rede zur Lage der Nation feilte.
Am 15. August 1998, an einem Samstag morgen, spielt die Szene, auf den sich
die Aufmerksamkeit bei der Lektüre des Buches von Bills Ehefrau Hillary
Rodham Clinton (Gelebte Geschichte) richtet: Der Präsident hat seine
Gattin geweckt, läuft unruhig durchs Zimmer und gesteht ihr endlich: da war
mehr, als er ihr gesagt hat. Ihre Reaktion darauf: Entgeistert, untröstlich,
wütend. Einen schlimmeren Augenblick könne sie sich kaum vorstellen. Ja,
schreibt Hillary Clinton, sie habe an Scheidung gedacht.
Warum sie diesen Schritt nicht tat? fragten fordernd Feministinnen. Die
Antwort liegt auf der Hand: Weil sie ihn liebte. Weil Bill Clinton ein
umwerfender Mann ist und bewunderungswürdiger Präsident war. Hillary und
Bill hatten eine gemeinsame Mission; wenn man verstehen möchte, wie ein Mann
und eine Frau Hand in Hand arbeiten können, dann schaue man auf dieses Paar.
Die Reformen der gemeinsamen Präsidentschaft zu Ende zu führen, das war mit
ein ausschlaggebender Grund, Bill nicht zu verlassen.
Journalisten und Leser stürzten sich auf jene Passagen des sechshundert
Seiten starken Buches, doch die Details geben nichts Ungewöhnliches her. Eine
Frau wird von ihrem Mann betrogen, er lügt sie und die gemeinsame Tochter an,
um niemanden unnötig zu beunruhigen. Warum sollte er seine Familie gefährden
mit einer Affäre, die kurz war und kaum Gewicht hatte? Das passiert täglich
tausendfach. Die Wucht der Affäre entfaltete sich erst durch eine bigotte
amerikanische Öffentlichkeit und vor allem durch Sonderermittler Starr, der -
weitab von den Gründen, für die er einst eingesetzt wurde - endlich eine
Chance sah, den verhassten Präsidenten zu kippen. Das rechtskonservative
Establishment, dass jetzt mit George W. Bush regiert, lancierte mit Hilfe der
Murdoch-Presse einen schmutzigen Angriff nach dem anderen, um die Clintons
buchstäblich zu zerstören. Erst vor diesem Hintergrund wird die fast schon
unglaubliche Stärke der Clintons - jeder für sich und erst recht beide
gemeinsam - deutlich. Bill war (und ist) nach dem Gefühl Hillarys "eine
Naturgewalt", voller Energie, Tatkraft, Einfühlungsvermögen und nie
versiegendem Optimismus, einem Optimismus, wie wir ihn hier zu Lande kaum
kennen. In den dunkelsten Stunden konzentrierten sie sich auf die Sachthemen:
Arbeitsplätze, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, Umweltschutz,
Abtreibungsrecht: "die Sachthemen, die Sachthemen." Das ist die
zivilisiertere Art, Wahlkampf zu führen und Politik zu machen.
Die Clintons traten an, um Amerika zu verändern. Ein frischer Wind wehte,
als erstmals ein von '68 geprägter Präsident ins Weiße Haus einzog. Sidney
Blumenthal dokumentierte kürzlich eindrucksvoll, wie eine junge politische
Generation versucht hat, Amerika auf einen besseren Weg zu bringen, und er
belegt, wie es ihren Widersachern um George W. Bush teilweise gelang, diese
Erneuerung scheitern zu lassen.
Es wäre fatal, würde die Präsidentschaft Clintons und die Rolle seiner
Frau auf die Lewinsky-Affäre reduziert. Hillary kümmerte sich mit Engagement
und Ausdauer um eine (weitgehend nicht realisierte) Gesundheitsreform und die
Reform einzelner Missstände in Familien. Ihre Position ist: Wir brauchen
Familien, in denen die Eltern ihren Kindern Liebe, Aufmerksamkeit und Unterstützung
geben. Wenn Kinder nicht diese Erfahrung machen, können sie sich später
schlecht um ihre eigenen Familien kümmern. Wichtig ist, dass Kinder etwas über
die Welt lernen. Eltern sollten ihren Kindern die nächstgelegene
Jugendbibliothek zeigen. Ein Fernsehgerät sollte für gelegentliche Benutzung
im Haus sein, aber wichtiger ist, dass Kinder draußen herumtollen. Einige
sind der Meinung, dass Kinder durch Brett- und Kartenspiele strategisches
Denken lernen. Daran könnte was sein. Eltern sollten bei den Hausaufgaben
helfen. Es ist ein Glück, wenn die Kinder begeisterte Schüler werden. Das
kann gelingen mit gut ausgestatteten Schulen, gut ausgebildeten Lehrern und
einem umfangreichen Angebot an außerschulischen Aktivitäten. Lesen
Grundschullehrer heute noch aus "Pu der Bär" vor?
Hillary vermittelt einen unbeugsamen Glauben an den Wert des sozialen
Engagements. Jeder kann sich um die Belange seiner Mitmenschen kümmern, vor
allem , wenn es um Kinder geht. Viele werden - ohne eigenes Zutun - von
Geburt an benachteiligt und diskriminiert. Es wäre unethisch, hier nicht für
Ausgleich und Unterstützung zu sorgen. Deshalb sind jede Form der
Selbstgerechtigkeit und jeder Anspruch an moralische Überlegenheit von Übel.
Widersacher müssen mit Respekt behandelt und ihre Sorgen ernst genommen
werden. Man muss bereit sein, für sich selbst und für das, woran man glaubt,
einzustehen. Man sollte bereit sein, seine Ansichten im Gespräch, auf Vorträgen
oder schriftlich zu erläutern und zu verteidigen. Eltern sollten es vorleben,
dass sie nicht besser oder schlechter sind als irgend ein anderer Mensch. Auch
sei es selbstverständlich, nie mehr Geld auszugeben, als man einnehme. Ab
einem gewissen Alter sollten Kinder versuchen, ihr Taschengeld selbst durch
einen Sommerjob zu verdienen. Die amerikanische Kultur des Fundraisings
bedeutet, Geld zu sammeln für wohltätige Zwecke, nicht für sich. Hillary
wirbt für Pluralismus, gegenseitigen Respekt und Verständnis und lehrt
gleichzeitig den Wert der Individualität.
Zum aktuellen Problem Konsumterror schreibt sie: Warum sollte es nicht möglich
sein, dass Eltern Gruppenzwängen widerstehen? Hillarys Mutter weigerte sich
stets, sich damit zu beschäftigen, welche Kleidung die anderen Kinder tragen
oder was andere über sie und ihre Kinder denken. "Du bist
einzigartig", sagte sie zu Hillary, "es ist mir egal, ob jemand dies
oder das tut. Wir sind nicht jedermann. Du bist nicht jedermann." Hillary
hatte Eltern, die nie versuchten, ihr irgendeine Laufbahn aufzuzwingen. Sie
ermunterten sie lediglich, stets ihr Bestes zu geben und nach Glück zu
streben. Hillary konnte sich einfach nicht vorstellen, auf ein Studium oder
eine Karriere zu verzichten, um sich in eine Ehefrau zu verwandeln. Fleetwood
Mac spielte beim Wahlsieg "Don't stop thinking about tomorrow", die
Hymne von Bills Wahlkampf 1992. Vor allem die Zeile "It's always about
the future" hat es Hillary Clinton angetan. Was musste getan werden, um
Amerika reicher, sicherer, klüger, stärker und besser zu machen?
Schaut man sich die gelebten Werte Hillary Clintons an, so fallen ins Auge
- Energie und willensstarker Optimismus
- Selbstbewusstsein und stetiges Streben nach Selbstbestimmung
- Humor: sehr vergnügt und stets bereit, anderen zu helfen
- Sinn für soziale Verantwortung = Gemeinschaftsgefühl
- ein Gleichgewicht zwischen Individualismus und dem sozialen Erfordernissen
und Anliegen
Diese Werte drückten sich aus in den konkreten Zielen und Erfolgen der Präsidentschaft
Clintons. Wie 1992 versprochen, hatte Bill das Haushaltsdefizit bis 1996 um
die Hälfte verringert. Dank boomender Wirtschaft wurden zehn Millionen neue
Arbeitsplätze geschaffen und der Steuerfreibetrag für 15 Millionen Arbeitskräfte
mit geringem Einkommen erhöht, die Erwerbstätigen vor einer Kündigung ihrer
Krankenversicherung beim Verlust des Arbeitsplatzes geschützt und der
Mindestlohn angehoben. Weitere vier Jahre später war die Zahl der
Sozialhilfeempfänger um 60 Prozent auf 5,8 Millionen gesunken. Die
Einzelstaaten hatten Teilzeitarbeit und Niedriglohntätigkeiten gefördert,
indem sie Geringverdiener mit medizinischer Versorgung und Lebensmittelmarken
versorgten. Die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Kinder war um 25
Prozent auf den Stand von 1979 gesunken. Drei Jahre früher als vorgesehen war
der Staatshaushalt ausgeglichen, die Reserven der Sozialversicherung aufgefüllt,
die Pensionen der Staatsdiener gesichert. Zudem erfolgten beträchtliche
Investitionen in die Bildung, in das Gesundheitswesen und in die
Kinderbetreuung.
Hillary spricht in ihrem Buch über die drei unverzichtbaren Bestandteile
jeder modernen Gesellschaft: ein effektiver Staat, eine freie Marktwirtschaft
und eine aktive Zivilgesellschaft. Im letztgenannten Teil finden wir alles,
was das Leben lebenswert macht: die Familie, die freiwilligen Zusammenschlüsse,
Kunst und Kultur (in den USA vornehmlich auch den Glauben). Bills Verwaltung
half mit, das Blutvergießen in Haiti, Bosnien, Irland und dem Kosovo zu
beenden und er trieb persönlich den Friedensprozess im Nahen Osten voran (dem
sich Arafat verweigerte).
Bill, schreibt Hillary, habe sich in all den Jahren sein jungenhaftes Lächeln,
seinen scharfen Verstand und jenen ansteckenden Optimismus bewahrt, in den
sich Hillary vor langer Zeit verliebt hatte. 25 Jahre später freute sie sich
immer noch, wenn er den Raum betrat. Sie teilten den Glauben an die Bedeutung
des Dienstes an der Gemeinschaft, und sie waren der beste Freund des anderen.
Und vor allem brachten sie sich einander immer noch zum Lachen. An ihnen ist
zu beobachten menschliche Wärme, Intelligenz und Bodenständigkeit, Fürsorglichkeit,
Liebenswürdigkeit, ein mit beiden Beinen auf der Erde Stehen, beseelt von dem
unstillbaren Ehrgeiz, Gutes zu tun und gut zu sein, und dabei selbstlos zu
sein. Sie spüren eine tiefe Verpflichtung ihrem Land gegenüber. Sie reden
mit den Menschen ohne Arg. Hillary erwähnt, dass sie von einer Freundin die
Regel annahmen, "solange du kannst, tue so vielen Menschen wie möglich
so viel Gutes wie du kannst, und zwar mit allen deinen Mitteln, auf alle möglichen
Arten, an allen möglichen Orten und wann immer es dir möglich ist".
Gerald Mackenthun, Berlin
November 2003
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