Kast,
Bas: Revolution im Kopf. Die Zukunft des Gehirns Berliner
Taschenbuch Verlag, Berlin 2003
Der vorliegende Text ist Teil eine Reihe ("Gebrauchsanweisungen für
das 21. Jahrhundert"), die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine
allgemeinverständliche Orientierungshilfe für neuere Entwicklungen vor allem
in Wissenschaft und Technik zu vermitteln. Und wenn schon überall davon die
Rede ist, dass die Hirnforschung im angebrochenen Jahrhundert eine herausragende
Rolle spielen wird, dann liegt hiermit ein Text vor, der auch dem Laien die
bahnbrechenden Forschungsergebnisse zugänglich macht.
Es könnte gut sein, dass die Hirnforschung dem Menschen die vierte Kränkung
zufügen könnte. Bekanntlich war die erste die Kopernikanische, wonach die Erde
und damit der Mensch nicht mehr den Mittelpunkt des Universums bildet; die
zweite, die Darwinsche: der Mensch ist aus der Evolution hervorgegangen und
durchaus nicht Krönung göttlicher Schöpfung; die dritte, die Freudsche: der
Mensch ist nicht einmal Herr im eigenen Hause. Die vierte könnte nun erweisen,
dass der Mensch keinen freien Willen hat. Gerade dieser Punkt ist jedoch
problematisch, zumindest wenn man sich die Versuchsanordnung anschaut, mit der
dies bewiesen werden soll. Ein Mensch sitzt vor einem Schalter und soll ihn
betätigen, wann er will. Tut er dies, so soll er noch eine Art Uhr im Auge
behalten, sich den Zeitpunkt seines Willensentschlusses merken. Die Untersuchungen haben ergeben, dass eine
halbe Sekunde vor dem eigentlichen Entschluss, bereits ein
Bereitstellungspotential messbar ist, die Handlung schon ausgeführt ist, wenn
der Mensch gerade meint sich erst dazu entschlossen zu haben. Aber ist das
wirklich so einfach? Kennen wir nicht auch sonst eine Erwartungsspannung, bevor
wir eine Handlung ausführen? Die Zukunft wird zeigen, ob hier nicht der Wunsch
des Rezensenten ausschlaggebend ist, den freien Willen doch zu erhalten, der
für einen Psychoanalytiker sowieso nicht sehr weit reicht - aber ein bisschen
vielleicht?
Schon I. Kant hat gesagt: Der Kopf ist im Raum und der Raum ist im Kopf. Diese
philosophische Betrachtung hat in der Hirnforschung ihre Bestätigung gefunden.
Was wir an Wirklichkeit wahrnehmen ist letztlich eine virtuelle Welt im Kopf, und das
große Wunder ist nach wie vor, dass wir, dafür, dass wir nicht wirklich
wissen, was Realität ist, uns darin recht gut zurechtfinden können. Kast zeigt
an anschaulichen Beispielen, wie komplex die Funktion der Hirnzellen ist. So
weiß man heute z.B., dass sie hochspezialisierte Neuronen sind, unter denen
etwa einige für Form, andere für Farbe zuständig sind. Dass wir einen
Gegenstand sowohl in seiner Form als auch in seiner Farbe wahrnehmen können,
liegt etwa daran, dass die in ihrer Teilspezialisierung zuständigen Neuronen
gleichzeitig "feuern". So führen Hirnverletzungen u.U. dazu, dass wir
einen dargebotenen farbigen Gegenstand zwar wahrnehmen, ihm aber nicht die
"richtige" Farbe zuordnen können.
Ebenso verstehen wir heute, wieso es blind Sehende gibt. Nach einem Unfall im
Bad, bei dem eine Frau eine Kohlenmonoxidvergiftung erlitt und fast daran
gestorben wäre, erweist sie sich als blind. Sie kann die Welt nur noch
schattenhaft wahrnehmen. Und trotzdem kann sie "sehen". Man hielt ihr
einen Briefschlitz vor und fragte sie, ob der Schlitz senkrecht oder waagerecht
liegt. Sie konnte keine Antwort darauf geben. Als der Untersucher ihr aber einen
Brief in die Hand gab, steckte sie ihn ohne Probleme in den Schlitz. Kast führt
dies als Beleg für die Existenz unbewußter Vorgänge im Gehirn an. Denn vieles
wird vom Gehirn wahrgenommen, ohne dass wir eigens davon Kenntnis erhalten. Hier
liefert die Hirnforschung einen Beleg für das Freudsche Postulat des
Unbewußten.
Für den Tiefenpsychologen ist das natürlich besonders spannend, zumal einige
Thesen der Psychoanalyse mit viel Engagement bekämpft wurden und werden. Und
nun kommt ihr also die Hirnforschung zu Hilfe. Das gilt z.B. auch für die
Freudsche These, dass nicht der Verstand, sondern das Gefühl der eigentliche
Beweger unseres Verhaltens ist. Die These wird schon von der bloßen
Hirnphysiologie gestützt, denn es laufen wesentlich mehr Nervenbahnen von den
Emotionszentren zu den Denkzentren als umgekehrt.
Der Neurologe Damasio von der University of Iowa konzipierte ein Experiment, bei
dem durch Ziehen von Karten von verschiedenen Stapeln möglichst hohe Gewinne
erzielt werden sollten. Der Haken an der Sache war, dass es gelegentlich eine
Strafe gab, wenn man eine Karte zog. Bei den gewinnträchtigen Stapeln war die
Strafe ziemlich hoch. Bei den Probanden wurde während des Versuchs der
Hautwiderstand abgeleitet und bald nach Beginn des Versuches zeigten sie
deutlich eine Streßreaktion (Verringerung des Hautwiderstandes wegen erhöhter
Schweißproduktion), wenn sie zu einem der Stapel griffen, die mit hohen
Gewinnen lockten. Das Kartenspiel war dabei so angelegt, dass man letztlich den
höchsten Gewinn einfuhr, wenn man hauptsächlich von dem Stapel griff, der die
kleineren Gewinn hergab. Hatten die Probanden das Spiel bereits durchschaut? Auf
Nachfrage konnte keiner den geheimen Plan benennen. Die Gefährlichkeit war aber
doch erkannt, wie die Streßreaktion zeigte. Aber erst nach der fünfzigsten
Karte zog der Verstand langsam nach und nach der achtzigsten konnten die meisten
genau erklären, wie das Spiel funktionierte. Dass der Verstand ziemlich lange
brauchte, war schon verblüffend genug. Aber es nahmen an dem Experiment auch
Patienten teil, deren Präfrontalkortex (Stirnhirn) geschädigt war. Bei keinem
von ihnen war die gleiche Streßreaktion zu registrieren, wie sie die gesunden
Teilnehmer zeigten. Gleichwohl durchschauten sie das Spiel ebenso nach der
achtzigsten Karte. Und trotzdem zogen sie weiterhin von den riskanten Stapeln!
Das läßt den Schluß zu, dass unsere Gefühle dem Verstand vorauseilen und,
fehlen sie, der Verstand zum zahnlosen Tiger degeneriert.
Auch die These Freuds von Es, Ich und Über-Ich als getrennte Entitäten lässt
sich durch die Hirnforschung erhärten. So gibt es Patienten, die nach
bestimmten Schädigungen im Bereich des Stirnhirns bereits in sehr jungen Jahren
unbelehrbar sind, nicht auf Strafen reagieren und sich an keinerlei Regeln
halten. Das auffällige dabei ist: sie haben keinerlei Schuldgefühle
(definitionsgemäß das Refugium des Über-Ich) wegen
ihres Handelns! Beim Es ist es schon schwieriger; ihm lässt sich anscheinend
keine Einheit im Gehirn zuordnen, was noch extremer für das Ich gilt, dass sich
aus dutzenden Hirnzentren zusammen zu setzen scheint.
Zuletzt will ich noch die Bestätigung der "Rationalisierung",
ebenfalls ein Terminus aus der Freudschen Psychoanalyse, erwähnen. Wir wissen
bereits von Alzheimer Kranken, dass sie ihre Vergesslichkeit lange Zeit durch
Konfabulieren auszugleichen suchen. Gleiches kennen wir aus Hypnoseexperimenten,
wo ein Proband einen posthypnotischen Befehl ausführt und auf Befragung alles
mögliche zu seinem Verhalten sagt, nur nicht, dass er die Aufforderung zu
seinem Tun in der Hypnose erhalten hat. So erhält nun die Behauptung Freuds,
dass wir längst nicht immer die Gründe für unser Verhalten kennen, von Seiten
der Hirnforschung einen Beleg. Bei Split-Brain-Patienten, solchen, denen man aus
therapeutischen Gründen die Brücke zwischen der rechten und linken Hirnhälfte
durchtrennt hat (um die Ausbreitung heftiger epileptischer Anfälle auf die
andere Hirnhälfte zu verhindern) musste man feststellen, das die Operation
durchaus nicht ohne Folgen blieb. Die rechte Hälfte weiß nun nicht mehr, was
in der linken los ist. Die Forscher konnten zeigen, "das beide Hirnhälften
unterschiedliche Stimmungen, ja sogar verschiedene Wünsche oder Ziele haben
konnten. Jede Hirnhälfte schien im Besitz einer eigenen Seele zu sein." (S. 113)
Ein spannend geschriebenes Buch, dass natürlich den geplagten Tiefenpsychologen
freut.
Bernd Kuck
Bonn, im Februar 2003
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